Wasserträger in einem Camp bei Rafah
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„Katastrophale Situation“

Tausende fliehen vor Kämpfen in Chan Junis

Tausende Palästinenser und Palästinenserinnen sind Augenzeugenberichten zufolge aufgrund heftiger Kämpfe auf der Flucht aus Chan Junis im Süden des Gazastreifens. Die humanitäre Situation in dem von der Hamas kontrollierten Palästinensergebiet werde „von Tag zu Tag katastrophaler“, erklärte das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) und warnte vor einer Hungersnot.

Viele flüchten den Berichten zufolge in Autos oder zu Fuß Richtung Rafah an der Grenze zu Ägypten. Nach UNO-Angaben sind dort rund 1,5 Millionen Menschen – etwa zwei Drittel der Bevölkerung des Gazastreifens – in Notunterkünften und Zeltlagern unter schlechten humanitären Bedingungen zusammengepfercht. Neuerliche Evakuierungsaufrufe der israelischen Armee von der Nacht auf Mittwoch betreffen laut dem UNO-Nothilfebüro (OCHA) ein Gebiet von rund vier Quadratkilometern in Chan Junis. Das inkludiert auch Spitäler.

Derzeit leben laut OCHA 88.000 Menschen in der Region um Chan Junis, dazu kommen noch geschätzte 425.000 Binnenflüchtlinge, die in 24 Schulen und anderen Einrichtungen, darunter auch Krankenhäuser, Schutz suchen. Hundert Patienten und Tausende Vertriebene könnten aufgrund der Kämpfe die Spitäler in Chan Junis nicht verlassen, hieß es von Ärzte ohne Grenzen.

Palestinenser bei der Flucht aus Chan Junis
APA/AFP
Aufgrund der Kämpfe bei Chan Junis fliehen erneut Tausende Palästinenser Richtung Rafah

„Die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens ist einer Zerstörung ausgesetzt, die in ihrem Ausmaß und ihrer Geschwindigkeit in der jüngeren Geschichte ohne Beispiel ist“, sagte UNO-Chef Antonio Guterres am Dienstag vor dem Sicherheitsrat. „Nichts kann die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes rechtfertigen.“

Israel weist Schuld an Angriff auf UNO-Lager zurück

Am Mittwoch berichtete der Chef des UNO-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) im Gazastreifen, Thomas White, vom Beschuss eines UNO-Lagers mit palästinensischen Geflüchteten in Chan Junis. „Das UNRWA-Lager mit Zehntausenden Menschen ist gerade getroffen worden – Gebäude brennen und viele Opfer“, schrieb White auf X (Twitter). Demnach trafen zwei Panzergeschoße ein UNRWA-Trainingszentrum, in dem 800 Menschen Zuflucht gesucht hatten. Neun Tote und 75 Verletzte wurden gemeldet. White schrieb nicht, wer die Einrichtung seiner Einschätzung nach angegriffen hatte.

Das israelische Militär wies die Verantwortung für den Angriff auf das UNO-Lager zurück. Durch eine Untersuchung der operativen Systeme habe man ausschließen können, dass die Armee das Zentrum getroffen habe, hieß es am Mittwochabend. Nun werde geprüft, ob der Treffer die Folge von Beschuss der Hamas gewesen sei.

„Wirklich sehr, sehr kleine Mengen“

Das Welternährungsprogramm (WFP) warnte vor einer drohenden Hungersnot im Gazastreifen. Mehr als eine halbe Million Menschen im Gazastreifen seien „mit einem katastrophalen Maß an Ernährungsunsicherheit konfrontiert“. Die anhaltenden Kämpfe würden die Lieferung lebenswichtiger Lebensmittelhilfen einschränken.

Die Situation verschlechtere sich zunehmend. Die Lage im Gazastreifen sei weltweit beispiellos, sagte WFP-Sprecherin Abeer Etefa. Noch nie seien so viele Menschen in so kurzer Zeit irgendwo auf der Welt so stark von Hunger bedroht gewesen.

Zudem seien rund 70 Prozent der Anträge auf Lebensmittellieferungen in den nördlichen Gazastreifen von den israelischen Behörden abgelehnt worden, hieß es vom WFP. Die letzten Lieferungen in den nördlichen Gazastreifen mit 200 Tonnen Nahrungsmitteln für 15.000 Menschen seien am 11. und 13. Jänner erfolgt. Das seien „wirklich sehr, sehr kleine Mengen“. Seit Jahresbeginn kamen laut WFP gut 730 Lastwagen mit mehr als 13.000 Tonnen Lebensmitteln im Gazastreifen an.

Essensausgabe in Rafah
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
In Behelfsunterkünften in Rafah versuchen Hilfsorganisationen, die Menschen mit Essen zu versorgen

In einer Rede vor dem israelischen Parlament sagte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, der Konflikt werde so lange fortgesetzt, bis die „Aggression und das Böse“ der Hamas zerstört seien. „Das ist ein Krieg um unsere Heimat“, betonte er.

Ägypten: Israel verzögert Hilfslieferungen

Das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) schlug ebenfalls Alarm, dass 570.000 Menschen im Gazastreifen vor einer Hungerkatastrophe stehen, und forderte einen besseren Zugang für humanitäre Hilfe.

Intensive Kämpfe, Zugangsverweigerungen und -beschränkungen sowie Kommunikationsausfälle würden die Hilfeleistungen behindern. Eine Gruppe von acht UNO-Menschenrechtsexpertinnen und -experten warf Israel kürzlich vor, Hunger als Kriegstaktik einzusetzen.

Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi beschuldigte Israel am Mittwoch, die Lieferung von Hilfsgütern zu verzögern. Die Verfahren von Israel zur Erlaubnis des Transports behinderten den Transport, obwohl der Grenzübergang Rafah rund um die Uhr geöffnet sei. „Das ist Teil ihrer (der Israelis, Anm.) Bemühungen, Druck auf die Freilassung der Geiseln auszuüben.“

Weniger Hilfslieferungen als vor dem Krieg

Israel hingegen verwies am Wochenende auf andauernde Lieferungen. Vor wenigen Tagen öffnete Israel seinen Hafen Aschdod für Mehllieferungen in den Gazastreifen, seit Ende Dezember ist mit Kerem Schalom ein zweiter Grenzübergang in das Palästinensergebiet für Hilfskonvois geöffnet worden.

Seit Beginn des Gaza-Kriegs hätten fast 10.000 Lkw-Ladungen mit Hilfsgütern den Gazastreifen erreicht, hieß es aus Israel. Das waren aber nicht einmal 100 Lastwagen pro Tag. Vor Kriegsbeginn waren rund 500 Lkws täglich mit humanitären Gütern in das Gebiet gefahren.

Gefährliche Berichterstattung

Auch die Berichterstattung aus dem Gazastreifen wird gefährlicher. Israels Sicherheitsbehörden haben israelischen und ausländischen Journalisten den Zugang untersagt – mit der Begründung, israelische Soldaten und die Journalisten selbst könnten gefährdet werden.

Berichterstattung aus dem Gazastreifen erfolgt zu einem Großteil über palästinensische Journalisten unter Einsatz ihres Lebens. Am Dienstag kündigte nach dem bekannten Al-Jazeera-Korrespondenten Wael al-Dahduh auch Motas Asaisa an, dass er „aus vielen Gründen“ aus dem Kriegsgebiet ausreisen müsse. Details nannte er keine.

Asaisa fotografierte den Alltag im Kriegsgebiet aus nächster Nähe. Er wurde für seinen Einsatz für die Nahost-Ausgabe des Magazins „GQ“ zum Mann des Jahres erklärt. Er sei eine „globale Figur, ein Mittel des Widerstands und die Verkörperung von Hoffnung für Menschen in Gaza und uns alle im Rest der Welt“.

UNO: Misshandlung von Gefangenen

Für Kritik des UNO-Menschenrechtsbüros sorgte zuletzt auch der Umgang Israels mit palästinensischen Gefangenen. Ajit Sunghay, Vertreter des Menschenrechtsbüros, teilte Ende vergangener Woche mit, dass Männer teils nach mehr als acht Wochen Inhaftierung einzig mit Windeln bekleidet freigelassen würden. Sie hätten von Schlägen, Erniedrigungen und Misshandlungen berichtet, die womöglich Folter darstellten. Sunghay forderte eine Untersuchung der Vorwürfe.

Bisher habe Israel das Schicksal und die Zahl der Gefangenen aus dem Gazastreifen verschwiegen, heißt es in einem Bericht palästinensischer Rechtsgruppen, den die „New York Times“ („NYT“) zitiert. Das UNO-Menschenrechtsbüro geht von Tausenden Gefangenen bisher aus. Die israelische Armee betonte in einer Reaktion auf die Kritik, sich bei Gefangennahmen an internationales Recht zu halten. Es sei oft notwendig, Kleidungsstücke von Terrorverdächtigen auf Sprengstoff und Waffen zu untersuchen.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erhalte täglich Berichte von Familien in Gaza über verhaftete Familienmitglieder, hieß es von einem Sprecher gegenüber der „NYT“. Derzeit arbeite die Organisation an 4.000 Fällen verschwundener Palästinenser. Aber nur in ganz wenigen Fällen habe es Hinweise gegeben, dass die Betroffenen noch am Leben seien.