Ansicht des Strafpagers IK-3 im nordrussischen Kharp
Reuters
Festnahmen nach friedlichem Protest

Harte Repressionswelle in Russland

Die Einschüchterung von Oppositionellen, Regimekritikern und NGOs in Russland unter Präsident Wladimir Putin hat schon vor dem Angriffskrieg in der Ukraine begonnen. Seither verschärfte sich die Repression allerdings, und es gibt Anzeichen, dass bestehende Gesetze noch schärfer ausgelegt werden. Erst am Samstag kam es rund um einen friedlichen Antikriegsprotest in Moskau zu Dutzenden Festnahmen.

Zurzeit reichen in Moskau Blumen und kritische Worte, um ins nächstgelegen Polizeirevier abgeführt zu werden. Am Samstag lud die Bewegung „Putj domoi“ (dt.: „Weg nach Hause“) zu einer Protestaktion an der Kreml-Mauer. Die Bewegung war von Ehefrauen mobilgemachter Russen ins Leben gerufen worden. Zum 500. Tag der Mobilmachung von Kreml-Chef Wladimir Putin legten sie am Samstag Blumen auf dem Grab des unbekannten Soldaten ab. Bei der Veranstaltung sprachen sich die Aktivistinnen auch für einen schnellstmöglichen Frieden aus.

Laut dem unabhängige Internetportal Sota wurden 27 Personen, die an dem Protest teilgenommen hatten, abgeführt und in das nächstgelegene Polizeirevier überstellt. Unter den Festgenommenen sollen sich vor allem Männer befinden. Laut dem Bericht sind auch ausländische Journalisten darunter. Die jüngsten Festnahmen sind nur ein kleines Puzzlestück in einem größeren Bild staatlicher Repression in Russland.

Moskau: Festnahmen bei Protest gegen Krieg

27 Personen sind vor dem Kreml in Moskau bei Protesten von Angehörigen der für den Ukraine-Krieg mobilisierten Russen festgenommen und in das nächstgelegene Polizeirevier überstellt worden.

Fünfeinhalb Jahre Haft für Social-Media-Post

Ende Jänner wurde eine 72-jährige Pensionistin zu fünfeinhalb Jahren Straflager verurteilt, weil sie zwei Social-Media-Posts zum Ukraine-Krieg geteilt hatte. Der Vorwurf: absichtliche Verbreitung von „falschen Informationen“ über die russische Armee. Der Russland-Experte von der Universität Innsbruck, Gerhard Mangott, zeigte sich im ORF.at-Interview über die hohe Strafe verwundert: „Es ist ein Hinweis, dass sich die Spirale weiterdreht und das Gesetz zu Extremismus und Diskreditierung der russischen Armee noch stärker angewendet wird.“

Bisher sei das Strafmaß bei den Personen, die für den politischen Diskurs relevanter seien, meist höher gelegen. Das sei bei der Pensionistin nun nicht mehr der Fall. Die russische Führung müsse aufpassen, den Bogen nicht zu überspannen, so Mangott: „Die Frage ist, ob bei Strafen dieses Ausmaßes der Zweck der Einschüchterung noch wirkt oder die Wut größer ist.“

Gesetze und ihre Anwendung verschärft

Seit Beginn des Krieges wurden bestehende Strafgesetze verschärft und strikter angewendet, neue kamen hinzu wie das Gesetz, das die Diskreditierung der russischen Streitkräfte unter Strafe stellt. Der Kommunalpolitiker Alexej Gorinow wurde im Juli 2022 dafür als Erster zu sieben Jahren Haft verurteilt. Der in Haft schwer erkrankte Gorinow hatte von einem Krieg gegen die Ukraine gesprochen und nicht die offizielle Bezeichnung von Moskau einer „militärischen Spezialoperation“ verwendet.

Tausende weitere folgten. Es habe mehr als 8.400 Verfahren dazu seit Bestehen des Gesetzes gegeben – viele hätten mit teilweise hohen Haft-, einige mit Geldstrafen geendet, so Mangott. Allein der Satz „Nie wieder Krieg“ – in Schnee geschrieben – brachte einem Mann zehn Tage Haft ein.

Anklage für Regenbogenfahne auf Fotos

Im April vergangenen Jahres erhöhten sich die Höchststrafen für Hochverrat auf lebenslang, für Sabotage auf 20 und für „internationalen Terrorismus“ auf zwölf Jahre. Auch das Extremismusgesetz komme seit Beginn des zweiten Kriegsjahres verschärft zur Anwendung, so Mangott. Das betrifft auch Mitarbeiter der Organisation des bekannten inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny. Seine Organisation wurde als extremistisch eingestuft.

Der Oppositionelle Wladimir Kara-Musa
IMAGO/TASS/Sergei Bobylev
Der Oppositionelle Kara-Mursa wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt und befindet sich in einem Straflager in Sibirien in Isolationshaft

Kürzlich wurden zwei 17-Jährige wegen mutmaßlicher Sabotage im Auftrag der Ukraine festgenommen. Sie sollen einen Gerätekasten der Eisenbahn in Brand gesetzt haben. Ihnen drohen bis zu 20 Jahre Haft.

Am selben Tag wurde eine Frau angeklagt, weil auf ihrem Instagram-Profil Fotos mit einer Regenbogenfahne zu sehen waren. Das kann mit bis zu 15 Tagen Haft geahndet werden. Vergangenen November hatte der Oberste Gerichtshof ein Verbot gegen die „internationale LGBTQ-Bewegung“ wegen „Extremismus“ erlassen. Für Einzelpersonen kann das jahrelange Haftstrafen bedeuten.

Vermögen beschlagnahmen bei „falschen Informationen“

Ausgeweitet worden sei auch das Gesetz über ausländische Agenten, das Menschen „mundtot machen soll“, sagte Mangott. Zu „ausländischen Agenten“ können künftig alle Organisationen und Einzelpersonen erklärt werden, die aus dem Ausland unterstützt werden oder unter irgendeiner Form von „ausländischem Einfluss“ stehen.

Ende Jänner billigte das russische Unterhaus einen Gesetzesentwurf, dem zufolge die Behörden Geld und Wertgegenständen von verurteilten Kritikern der russischen Armee beschlagnahmen dürfen. Die vorgesehenen Strafen von bis zu 15 Jahren für „falsche Informationen“ über die Armee reichten nicht aus, meinte der Vorsitzende des Unterhauses, Wjatscheslaw Wolodin. Das Gesetz soll auch für Personen gelten, die wegen öffentlicher Anstiftung zu „extremistischen Aktivitäten“ verurteilt werden.

Kara-Mursa in Isolationshaft

Das Ausmaß der Haftstrafen wurde bereits im zweiten Kriegsjahr drastisch nach oben geschraubt. Der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa wurde im April 2023 wegen des Vorwurfs, „falsche Informationen“ über die Armee verbreitet zu haben, sowie des Hochverrats zu 25 Jahren Haft verurteilt. Im Jänner wurde er nach Angaben seiner Anwältin für vier Monate in eine andere Strafkolonie in Sibirien in Isolationshaft verlegt. Das sei damit begründet worden, dass er nicht auf Befehl vom Bett aufgestanden sei. Der Befehl sei aber gar nicht erteilt worden, teilte Kara-Mursa seiner Anwältin schriftlich mit.

Russische Polizei bei Zusammenstößen mit Demonstranten in Baymak (Bashkortostan)
AP/Russian independent news outlet SOTA telegram channel
In der Teilrepublik Baschkortostan kam es im Jänner zu seltenen regimekritischen Protesten. Mehrere Teilnehmer wurden verhaftet.

Offene Proteste gibt es in Russland kaum. Umso außergewöhnlicher waren die Proteste zur Unterstützung eines Oppositionellen in der russischen Teilrepublik Baschkortostan mit mehreren tausend Teilnehmern. Diese wurden vom Kreml dementiert. Es gebe dort „keine Massenunruhen und Massenproteste“, hieß es von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Mehrere Demonstrierende wurden festgenommen.

Opposition fehlen Galionsfiguren

Die Repressionen der vergangenen Jahre zeigen Wirkung. Es gebe auf der unteren und mittleren Ebene, etwa bei Stadt- und Gemeinderäten, noch Opposition, so Mangott. Aber es gebe keinen Namen, der die liberale Opposition gegen Putin einen könnte. Galionsfiguren der Opposition sind tot, im Exil oder in Haft.

Er habe keine Erwartung, dass sich an der innenpolitischen Dynamik etwas ändern werde, sagte Mangott wenig optimistisch. Die liberale Opposition sei stark fragmentiert und ohne Profil. Die sozialliberale Oppositionspartei Jabloko existiere zwar noch, habe aber an Strahlkraft verloren, so der Russland-Kenner: „Die Partei schafft es nicht, die regimekritischen Stimmen hinter sich zu versammeln.“ Nawalny, der insgesamt zu mehr als 30 Jahren Haft verurteilt ist, habe noch aus der Haft mehr Einfluss als viele andere Oppositionspolitiker.