Eine Arbeiterin aus Bangladesh in einer Textilfabrik
AP/A.m. Ahad
Berliner bremst

Einigung auf EU-Lieferkettengesetz wackelt

Das geplante EU-Lieferkettengesetz droht an Deutschland zu scheitern. Zwei deutsche Ministerien wollen die Pläne nicht mittragen, wie am Donnerstag bekanntwurde. Im EU-Rat steht nach einer Einigung der Unterhändlerinnen und Unterhändler des Europaparlaments und der EU-Staaten vom Dezember noch die letzte Abstimmung im Kreis der EU-Staaten an. Eine Zustimmung Österreichs ist offen.

Momentan werde noch verhandelt, hieß es aus dem Büro von ÖVP-Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP). Zuvor wurde publik, dass das deutsche Finanz- und Justizministerium beim Lieferkettengesetz bremsen. „Im Rat der Europäischen Union hat dies eine Enthaltung Deutschlands zur Folge, die im Ergebnis wie eine ‚Nein‘-Stimme wirkt“, heißt es in einem Schreiben von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner.

Deutschlands Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) legte daraufhin neue Vorschläge vor, um eine Enthaltung Deutschlands zu vermeiden. Er schlug deutsche Regelungen für den Fall einer Umsetzung des EU-Gesetzes vor. Unter anderem sollen die jährlichen Berichtspflichten der Unternehmen durch das deutsche Lieferkettengesetz ausgesetzt werden. Die Grünen unterstützten Heils Vorschlag. Lakonisch reagierte der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) auf den neuen Koalitionsstreit: „Manchmal ist der Fortschritt eine Schnecke“, sagte er auf dem EU-Gipfel in Brüssel.

Zweiter später FDP-Rückzieher

Zuerst hatte „The Pioneer“ über die Haltung der FDP-Ministerien berichtet. Bereits im Streit über ein Aus für Neuwagen mit Verbrennungsmotor hatte Deutschland – vor allem auf Drängen der FDP – nachträglich Forderungen erhoben.

Durch das EU-Lieferkettengesetz sollen große Unternehmen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie etwa von Kinder- oder Zwangsarbeit außerhalb der EU profitieren. Größere Unternehmen müssen zudem einen Plan formulieren, der sicherstellt, dass ihr Geschäftsmodell und ihre Strategie mit der Einhaltung der Pariser Klimaziele zur Begrenzung der Erderwärmung vereinbar sind.

Deutschlands Finanzminister Christian Lindner (FDP)
APA/AFP/Thomas Kienzle
Deutschlands Finanzminister Christian Lindner (FDP)

Gesetzestext aktuell in Arbeit

Unterhändlerinnen und Unterhändler des Europaparlaments und der EU-Staaten hatten sich Mitte Dezember auf einen Kompromiss zu dem Vorhaben geeinigt. Noch gibt es aber lediglich einen politischen Deal. Ein genauer Rechtstext wird derzeit von Beamten ausgearbeitet – dieser könnte in den kommenden Wochen fertiggestellt werden. Danach muss er noch endgültig von den EU-Staaten und dem Europaparlament angenommen werden.

Ein EU-Diplomat sagte, dass mit einer Enthaltung Deutschlands unklar sei, ob es unter den EU-Ländern jetzt noch eine ausreichende Mehrheit für das Vorhaben geben wird. Es gibt etwa Spekulationen, dass sich andere Länder an der Entscheidung Deutschlands orientieren und dem Vorhaben nun ebenfalls nicht zustimmen. Damit steht eines der Leuchtturmprojekte der EU-Handelspolitik auf der Kippe.

Nach Angaben eines weiteren EU-Diplomaten wird die belgische Ratspräsidentschaft das Vorhaben weiter vorantreiben. Es werde an einer Einigung gearbeitet, hieß es. Von der SPÖ-EU-Abgeordneten Evelyn Regner gab es am Vorgehen der FDP-Ministerien scharfe Kritik: „Wenn dieses Beispiel Schule macht, wird das den europäischen Gesetzgebungsprozess nachhaltig beschädigen.“ Das Gesetz selbst bezeichnete sie als einen „der größten Erfolge der Legislaturperiode“.

Deutschland hat bereits Lieferkettengesetz

In Deutschland gibt es bereits ein Lieferkettengesetz, die EU-Variante geht aber über die Vorgaben des deutschen Gesetzes hinaus. Das deutsche Gesetz gilt für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Diese Grenze dürfte durch die EU-Version herabgesetzt werden.

Außerdem ist vorgesehen, dass Unternehmen zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen und beispielsweise Schadenersatzansprüche geltend gemacht werden können. Das ist im deutschen Lieferkettengesetz bisher ausgeschlossen. In Österreich gibt es noch kein vergleichbares Gesetz.

Deutsche Minister wegen Haftungen besorgt

Buschmann und Lindner kritisierten, das EU-Gesetz werde dazu führen, dass Unternehmen für Pflichtverletzungen in der Lieferkette in erheblicher Weise zivilrechtlich haften. Außerdem wären deutlich mehr Unternehmen betroffen als nach aktueller deutscher Rechtslage. Auch der Bausektor solle als Risikosektor eingestuft werden.

Insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen in diesem bereits durch gestiegene Bauzinsen gebeutelten Bereich könne das existenzbedrohend sein. „Viele Betriebe verfügen unserem Eindruck nach schlichtweg nicht über die entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen“, so die Minister. „Es ist zu befürchten, dass künftig noch weniger gebaut würde in Deutschland.“

Mehrere Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft forderten jüngst in einem Brief an Kanzler Scholz, die Zustimmung zum neuen EU-Lieferkettengesetz zu verweigern. Sie warnten vor „Rechtsunsicherheit, Bürokratie und unkalkulierbaren Risiken“.

IV: Deutsche Enthaltung „positiver Schritt“

Da es noch keinen endgültigen Entwurf gebe und noch verhandelt werde, müsse noch abgewartet werden, sagte eine Sprecherin von Kocher am Donnerstagnachmittag auf Anfrage der APA. Industriellenvereinigung (IV) und Wirtschaftskammer (WKÖ) äußerten sich am Donnerstag erneut kritisch zu dem Gesetz. Befürchtet wird eine Überregulierung. Die von den FDP-Ministerien erwirkte Enthaltung Deutschlands bezeichnete IV-Generalsekretär Christoph Neumayer als „ersten positiven Schritt auf EU-Ebene“.

„Wir unterstützen das Ziel, nachhaltiges und sozial verantwortungsvolles Wirtschaften, wie es in Europa seit jeher praktiziert wird, global zu fördern“, so WKÖ-Generalsekretär Karlheinz Kopf, der auch für die ÖVP im Nationalrat tätig ist. „Allerdings teilen wir die gewichtigen Bedenken der deutschen Wirtschaftsverbände zum aktuellen Richtlinienentwurf.“

WWF an Kocher: „Zu Kompromiss stehen“

„Das EU-Lieferkettengesetz ist ein zentrales Instrument, um Unternehmen beim Klima- und Naturschutz in die Pflicht zu nehmen“, argumentierte WWF-Vertreterin Teresa Gäckle in einer Stellungnahme gegenüber der APA. „Die Wirtschaft ist Teil des Problems – also muss sie auch Teil der Lösung werden. Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer sollten dieser Verantwortung gerecht werden, anstatt wichtige Regelungen zu hintertreiben.“ Kocher als zuständiger Minister solle „zum ausgehandelten Kompromiss stehen und das geplante Gesetz im EU-Ministerrat nächste Woche mitbeschließen“.

Kompromiss mit „Schlupflöchern“

Der Kompromiss im Dezember hatte gemischte Reaktionen zur Folge. NGOs und einige EU-Abgeordnete, darunter die Vorsitzende des Binnenmarktausschusses, Anna Cavazzini, hätten sich etwa noch strengere Regeln für Klima- und Umweltschutz gewünscht. „Statt weitere Klimazerstörung tatsächlich zu verhindern, wurde das Pariser Klimaabkommen aus dem Anhang gestrichen. So fehlt die Verknüpfung mit zivilrechtlicher Haftung“, kritisierte etwa Anna Leitner, Expertin für Ressourcen und Lieferketten bei Global 2000, damals.

„Trotz der bleibenden Schlupflöcher ist mit dem EU-Lieferkettengesetz ein wichtiger Schritt gegen Ausbeutung und für faire, menschenwürdige Arbeitsbedingungen weltweit gelungen“, teilte Stefan Grasgruber-Kerl, Lieferkettenexperte der Menschenrechtsorganisation Südwind, im Dezember in einer Aussendung mit.