Michelle O’Neill
AP/PA/Liam McBurney
Einigung in Nordirland

Katholikin O’Neill an Regierungsspitze

Nach zweijähriger politischer Krise hat Nordirland wieder eine Regierung – und erstmals in der 103-jährigen Geschichte der britischen Provinz steht eine katholische Politikerin an ihrer Spitze. Das Regionalparlament in Belfast wählte am Samstag die 47-jährige Michelle O’Neill von der Partei Sinn Fein zur „First Minister“. Damit wird die frühere Bürgerkriegsregion nun von einer Politikerin geführt, die eine Wiedervereinigung mit dem EU-Mitglied Irland anstrebt.

O’Neill muss zusammen mit der Democratic Unionist Party (DUP) und damit der größten protestantischen Partei regieren, die für die politische Union mit Großbritannien eintritt und künftig mit Emma Little-Pengelly eine ihr gleichberechtigte stellvertretende Regierungschefin stellt.

Die vorige Regierung in Belfast war auf den Tag genau vor zwei Jahren geplatzt. Seitdem hatte die DUP ihre vorgeschriebene Beteiligung aus Protest gegen Brexit-Sonderregeln für Nordirland verweigert. Sie argumentierte, die mit der EU getroffene Regelung gefährde die Union von Nordirland und Großbritannien.

Kürzlich einigte sich die Partei mit der britischen Zentralregierung auf ein Dokument, das die staatliche Einheit betonte, und gab daraufhin ihren Widerstand auf. Das Karfreitagsabkommen, das 1998 den Bürgerkrieg in Nordirland beendet hatte, sieht eine Einheitsregierung der beiden konfessionellen Lager vor.

Nordirland: Erstmals Katholikin an Regierungsspitze

Nach zweijähriger politischer Krise hat Nordirland wieder eine Regierung, und erstmals steht eine katholische Politikerin an ihrer Spitze.

„Historischer Tag“

Als neue Regierungschefin „für alle“ sei sie entschlossen, positive Veränderungen für alle herbeizuführen und Nordirlands „Gesellschaft im Geiste des Respekts, der Zusammenarbeit und der Gleichheit voranzubringen“, wie O’Neill in ihrer Antrittsrede sagte.

„Es geht um die Zukunft. Es geht darum zusammenzuarbeiten, um etwas für Arbeitnehmer und Familien zu erreichen und neue und aufregende Möglichkeiten zu schaffen, die sicherstellen, dass unsere Kinder und Enkelkinder ihre Träume und Ambitionen im Leben verwirklichen können“, hieß es dazu in einem Beitrag auf dem Kurznachrichtendienst X (Twitter), in dem O’Neill zudem festhielt: „Heute ist ein Tag des historischen Wandels.“

Tiefgreifende Probleme

Auch die neue Vizeregierungssprecherin gewählte Little-Pengelly hielt nach Angaben des „Belfast Telegraph“ fest, dass sie und die neue Regierungschefin O’Neill zwar aus „sehr unterschiedlichen Verhältnissen“ kommen würden – dennoch wolle sie „unermüdlich daran arbeiten, eine bessere Zukunft für alle zu gewährleisten“.

Auch von Beobachterseite ist von einem historischen Tag die Rede – gleichzeitig verwies etwa der britisch „Guardian“ auf eine lange Liste mit offenen und tiefgreifenden Problemen, die es für Nordirlands neue Regierung nun zu lösen gilt, „darunter eine Finanzkrise, bröckelnde öffentliche Dienste und ein schwindendes Vertrauen in die Demokratie“.

Die DUP hatte zwei Jahre die Kooperation verweigert. Sie forderte ultimativ ein Ende aller Zollkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs, auf die sich die Zentralregierung in London und die EU nach dem Brexit geeinigt hatten. Erst vor wenigen Tagen stimmte die DUP einem neuen Dokument zu. Die innerbritischen Kontrollen sollen auf ein Minimum reduziert werden – doch Experten nennen die Einigung mit der britischen Zentralregierung symbolisch.

Roupetz (ORF) zu Nordirland

Das Regionalparlament in Belfast hat die 47-jährige Michelle O’Neill von der Partei Sinn Fein zur neuen Regierungschefin gewählt. ORF-Korrespondentin Sophie Roupetz mit einer Analyse.

Sinn Fein: Geeintes Irland „in greifbarer Nähe“

O’Neills Amtsübernahme gilt als historischer Durchbruch für den irischen Nationalismus. Zuvor hatte Sinn-Fein-Präsidentin Mary Lou McDonald gesagt, ein geeintes Irland rücke „in greifbare Nähe“. Auch in der Republik Irland ist die Partei, die einst als politischer Arm der Terrororganisation IRA galt, laut Umfragen stärkste Kraft. Dort verhindern aber zwei liberal-konservative Parteien mit einer Koalition eine Regierungsbeteiligung.

In Umfragen ist die Skepsis auf nordirischer Seite bisher groß. Die Zeitung „Irish Times“ ermittelte Ende 2023, dass sich dort bei einem Referendum nur 30 Prozent für die Vereinigung aussprechen würden, aber 51 Prozent dagegen. In Irland liegt die Zustimmung bei knapp zwei Dritteln. Grundsätzlich strebt auch die irische Führung einen Zusammenschluss an. „Ich glaube, dass es ein vereintes Irland zu meinen Lebzeiten geben wird“, hatte Regierungschef Leo Varadkar im September gesagt und scharfe Kritik aus London ausgelöst.

Erstmals mehr Katholiken als Protestanten

Die Demografie spricht für die Republikaner. Erstmals leben mehr Katholiken in Nordirland als Protestanten, wie eine Volkszählung von 2021 gezeigt hat. Nach aktuellem Stand sieht es nicht danach aus, dass sich das wieder ändert. Dabei war das Gebiet 1921 nach dem irischen Bürgerkrieg ausdrücklich als Heimstätte für diejenigen gegründet worden, die weiterhin Teil Großbritanniens sein wollten – und das waren in der Mehrheit Protestanten. Umso intensiver beharren die Unionisten, die sich als Briten und nicht als Iren sehen, mittlerweile auf ihren Positionen, wie Experten meinen. Aus Protest gegen die Brexit-Kontrollen hatten militante Loyalisten auch Busse angezündet.

Ziel der bisherigen Regelung zwischen Großbritannien und EU war, nach dem Brexit eine „harte Grenze“ zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu vermeiden, um keine neuen Konflikte zu schüren. Doch die Umsetzung führte teilweise zu Engpässen bei Lebensmitteln, Medikamenten und Gärtnereiprodukten. Haustiere konnten nicht mehr mit in den Urlaub nach Großbritannien genommen werden. Loyalisten fürchteten, dass die Kontrollen die Union mit Großbritannien gefährden.

Die meisten Parteien in Nordirland begrüßten die Rückkehr der DUP ins „power-sharing“, also die Teilung der Macht. Doch Hardcore-Unionisten sind nicht überzeugt. Sie kritisieren, Nordirland sei weiterhin von den Gesetzen der EU abhängig, zu deren Binnenmarkt die Region de facto auch nach dem Brexit gehört. Auch die „Inthronisierung“ von O’Neill kritisieren sie. „Wir haben eine Sinn-Fein-Regierungschefin, aber nicht in meinem Namen oder dem Tausender anderer Unionisten“, sagte der Chef der Partei Traditional Unionist Voice, Jim Allister.