Mann vor improvisierter Unterkuinft in Antakya, Türkei
picturedesk.com/Boris Roessler
Beben vor einem Jahr

Ängste statt Alltag in Türkei und Syrien

Es war die verheerendste Katastrophe in der Region seit Hunderten Jahren: Am 6. Februar 2023 erschütterten zwei Erdbeben die Türkei und Syrien. Rund 60.000 Menschen starben, Millionen verloren ihr Zuhause. Ein Jahr später ist der Alltag nur teilweise zurückgekehrt, Trauer und Angst überwiegen, auch die verzweifelte Suche nach Vermissten hält an. Der Wiederaufbau steht auch politisch im Mittelpunkt – könnte er doch über die Zukunft des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mitentscheiden.

Um 4.17 Uhr türkischer Zeit erschütterte ein Beben der Stärke 7,8 den Süden des Landes sowie Teile Nordsyriens. Einige Stunden später sorgte ein weiteres starkes Beben für weitreichende Zerstörung. Es folgten unzählige Nachbeben, Hunderttausende Häuser stürzten ein. Das Ausmaß der Katastrophe zeigte sich nach und nach in den darauffolgenden Wochen.

Am Freitag, also knapp ein Jahr später, vermeldete das türkische Innenministerium 53.537 Todesopfer. Genaue Angaben zu den Opfern aus dem Bürgerkriegsland Syrien sind schwer zu ermitteln. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien kamen bei den Beben in ganz Syrien rund 6.800 Menschen ums Leben. Immer noch werden Hunderte Menschen vermisst, Angehörige wollen so lange weitersuchen, bis sie Gewissheit haben.

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Zerstörte Wohnhäuser in Antakya, Türkei
Reuters/Clodagh Kilcoyne
In Antakya, der Hauptstadt von Hatay, sind die Spuren des Bebens allgegenwärtig
Kinder sammeln Altmetall in den zerstörten Häusern von Antakya, Türkei
AP/Khalil Hamra
Aus den Trümmern wird Altmetall gesammelt, um es dann weiterzuverkaufen
Sicherheitskontrolle von Gebäuden in Antakya, Türkei
Reuters/Clodagh Kilcoyne
Ganze Straßen in Antakya sind von den Schäden gezeichnet
Freitagsgebet in zerstörter Mosche
AP/Khalil Hamra
Beschädigte Gebäude, wie hier eine Moschee, finden sich überall
Alltag in beschädigten Gebäuden in Antakya, Türkei
AP/Khalil Hamra
Nur langsam kehrt der Alltag in die Provinz Hatay zurück
Zerstörte Kirche in Haqtay, Türkei
IMAGO/SOPA/Tunahan Turhan
Auch Kirchen wurden bei dem Beben zerstört
Containersiedlung in Antakya, Türkei
AP/Khalil Hamra
Viele Menschen wurden in Containersiedlungen untergebracht
Bereits geräumte Fläche in Antakya, Türkei
AP/Khalil Hamra
Auf den geräumten Flächen sollen langfristig neue Häuser entstehen
Alltagsszene vor zerstörten Gäudenin Hatay, Türkei
AP/Pavel Nemecek
Die Wiederaufbaupläne gehen schleppend voran, während viele zum Alltag zurückkehren wollen
Abbrucharbeiten in Hatay, Türkei
AP/Pavel Nemecek
Auch ein Jahr später dauern die Aufräumarbeiten weiter an

Menschen weiter in Containern und Zelten untergebracht

Viele Überlebende verloren indes ihr Zuhause und wurden in Zelte übersiedelt. Mittlerweile wurden viele von ihnen in Wohncontainern untergebracht, doch in der am schwersten betroffenen Provinz Hatay gibt es immer noch zahlreiche Familien, die in Zelten leben – obwohl es in der Nacht oft Temperaturen nur knapp über dem Nullpunkt gibt, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet. In vielen Städten ist die Zerstörung noch immer prominent sichtbar, wie etwa im Zentrum von Hatays Hauptstadt Antakya.

Ein Jahr nach Beben: Leben in Zeltstädten

Ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei und Norden Syriens sind die Folgen nach wie vor spürbar. Rund 60.000 Menschen starben. Bis heute leben viele der Überlebenden in Notunterkünften.

Der türkische Präsident bezeichnete das Erdbeben zuletzt als „Katastrophe des Jahrhunderts“, die man nicht abwenden oder schnell bewältigen hätte können. Erdogan und seine Regierung wurden nach dem Beben scharf kritisiert. Ihnen wurden Fehler beim Krisenmanagement vorgeworfen, zudem gerieten erst illegal errichtete Wohnhäuser in den Fokus, die später von der Regierung legalisiert worden waren.

Bei einer Gedenkveranstaltung Dienstagfrüh in Antakya gab es laute Kritik. Tausende Menschen buhten die Regierung des Landes aus und bezeichneten sie teilweise als „Mörder“. Immer wieder wurde in Sprechchören auch der Rücktritt des Provinzbürgermeisters Lütfü Savas gefordert. Die Schweigeminute um 4:17 Uhr Ortszeit wurde von Rufen wie „Hört jemand unsere Stimmen?“ unterbrochen. Diesen Satz riefen auch die Retter, als sie vor einem Jahr tagelang in den Trümmern nach Verschütteten suchten.

Türkei: Gedenken an Erdbebenopfer

Begleitet von lauter Regierungskritik haben sich in der Türkei die verheerenden Erdbeben mit mindestens 60.000 Todesopfern gejährt. Im Zentrum der weitgehend zerstörten Stadt Antakya versammelten sich Tausende Menschen zum gemeinsamen Gedenken und buhten die Regierung des Landes aus.

Wiederaufbau hinkt hinterher

Der von Erdogan angekündigte Wiederaufbau – innerhalb eines Jahres sollten 319.000 erdbebensichere Wohneinheiten gebaut werden – verzögert sich. Bei einem Termin am Wochenende in Hatay wohnte Erdogan einer Schlüsselübergabe bei und kündigte an, bis Jahresende 200.000 Wohneinheiten übergeben zu wollen, deutlich weniger als ursprünglich geplant.

Grafik zu den tödlichsten Erdbeben
Grafik: APA/ORF

Für den türkischen Präsidenten sind vor allem skrupellose Bauunternehmer an der hohen Opferzahl schuld, die billigen Beton verwendet und grundlegende Bauvorschriften missachtet hätten. Laut der Nachrichtenagentur AFP wurden zwar über 200 Bauunternehmer festgenommen, doch es wird befürchtet, dass viele von ihnen glimpflich davonkommen werden, weil durch die Aufräumarbeiten auch jede Menge Beweise vernichtet wurden. Auch Beamte, die etwa für Baugenehmigungen verantwortlich zeichnen, stehen in der Kritik – laut AFP kann gegen sie aber nur mit Genehmigung des Innenministeriums ermittelt werden, das sich offenbar zurückhält.

Auch Wahl spielt Rolle bei Wiederaufbau

Der Wiederaufbau und der Umgang mit dem Beben allgemein weist Erdogan womöglich auch die Zukunft – dass hier politisches Kalkül mitschwingt, machte er bei dem Termin am Samstag deutlich. In der Provinz Hatay sagte er laut dpa, wer nicht mit der Zentralregierung zusammenarbeite, dem könne nicht richtig geholfen werden. Hatay wird im Gegensatz zur ebenfalls stark betroffenen Provinz Kahramanmaras oppositionell regiert. Ende März finden Lokalwahlen statt – dafür rührte er in Hatay ordentlich die Werbetrommel.

Der türkische Präsident Recep Erdogan in Hatay, Türkei
AP/Pavel Nemecek
Am Wochenende war Erdogan bei der Schlüsselübergabe für neue Wohneinheiten in Hatay anwesend

In Syrien wirkt eine Rückkehr zum Alltag noch viel weiter entfernt. Wie die amerikanische Nachrichtenagentur AP berichtet, habe das Beben die bereits weit verbreitete Armut noch ausgeweitet, Krankenhäuser sowie Strom- und Wasserversorgungssysteme sind zerstört, was viele Syrer dazu zwang, in Zeltsiedlungen zu ziehen. Etwa 800.000 Menschen, die in Zelten leben, müssen neu untergebracht werden. Internationale Hilfe ließ zuletzt nach – sei aber für die Menschen in Syrien ausgesprochen wichtig, heißt es.

NGO-Appelle für mehr Unterstützung

Die Hilfsorganisation Care forderte mehr finanzielle Unterstützung für die betroffenen Gebiete. „Die internationale Gebergemeinschaft muss die andauernden Auswirkungen des Erdbebens und langfristigen Risiken für die Türkei und Syrien umgehend ernst nehmen“, so die Direktorin für die Türkei, Rishana Haniffa. Ohne ausreichende Finanzierung werde die humanitäre Not weiter eskalieren. Auch Nachbar in Not ist an der Hilfsaktion in der Region beteiligt und betont, dass weiterhin Hilfe benötigt wird. Ärzte ohne Grenzen verweist auf die psychische Belastung der Menschen in Syrien – zusätzlich zur beschädigten Infrastruktur und schlechten Versorgungslage.

Die Angst vor einem neuerlichen Beben ist groß – die Türkei liegt an zwei der aktivsten Verwerfungslinien der Welt und wird fast täglich von kleineren Beben erschüttert. Die Angst ist aber auch groß, weil befürchtet wird, dass die Regierung auf eine weitere Katastrophe nicht besser vorbereitet ist als bisher. „Das Land muss dringend vom Krisenmanagement zum Risikomanagement übergehen“, so Mikdat Kadioglu, Professor für Katastrophenmanagement an der Technischen Universität Istanbul gegenüber AFP. „Es gibt noch viel zu tun.“