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AP/Matthias Schrader
100. Tag im Wirecard-Prozess

Streit über Freilassung von Kronzeugen

Am Mittwoch wird in München der 100. Prozesstag in der Causa Wirecard verhandelt. Seit 14 Monaten bereits wird nach der Verantwortung für das Milliardendebakel gesucht. Am Dienstag gab es erneut einen Knalleffekt: Der Kronzeuge Oliver Bellenhaus konnte die U-Haft verlassen. Er hatte den früheren Wirecard-Vorstandschef Markus Braun schwer belastet. Für Brauns Anwalt ist Bellenhaus’ Freilassung Resultat eines „schmutzigen Deals“ hinter verschlossenen Türen.

Für den 100. Verhandlungstag am Mittwoch ist die frühere Aufsichtsrätin Anastassia Lauterbach als Zeugin geladen. Sie muss sich unter anderem auf die Frage einstellen, ob der Wirecard-Vorstand die Arbeit des Kontrollgremiums erschwerte oder behinderte. Für Gesprächsstoff sorgte am Mittwoch aber vor allem Bellenhaus’ Freilassung am Vortag. Dieser kam nach mehr als dreieinhalb Jahren in Untersuchungshaft wieder auf freiem Fuß.

Der 50-jährige Deutsche war einst Statthalter von Wirecard in Dubai und gilt im Prozess als Kronzeuge. Er hatte sich kurz nach der Milliardenpleite im Juni 2020 den Behörden gestellt und eingeräumt, dass ein Großteil des Asiengeschäfts von Wirecard praktisch erfunden gewesen sei, was Braun bestreitet.

Grund für Bellenhaus’ Freilassung seien die lange Haftdauer, sein Geständnis und seine Bemühungen um eine Wiedergutmachung des Schadens, erklärte das Gericht. Zwar bestehe immer noch Flucht- und Verdunkelungsgefahr. Um das Risiko zu mindern, reiche es aber aus, wenn Bellenhaus seinen Personalausweis und Reisepass bei der Staatsanwaltschaft hinterlege und binnen einer Woche einen Wohnsitz melde. Er dürfe keinen Kontakt zu Mitangeklagten und Zeugen aufnehmen.

Braun muss hinter Gittern bleiben

Bellenhaus saß seit dem 7. Juli 2020 in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft sieht ihn unter anderen mit Braun, dem flüchtigen Vorstand Jan Marsalek und dem Finanzmanager Stephan von Erffa als Teil einer Bande, die Umsätze manipuliert und Geschäft in Asien vorgetäuscht habe. Bellenhaus belastete Braun schwer, dieser habe Bescheid gewusst. Braun wiederum sagt, Bellenhaus und Marsalek hätten die Milliardenerlöse in Asien hinter seinem Rücken beiseite geschafft. Der Insolvenzverwalter Michael Jaffe hat bisher jedenfalls keine Spur der fehlenden Milliarden gefunden.

Oliver Bellenhaus
IMAGO/Sven Simon
Bellenhaus kam auf freien Fuß – zum Ärger der Verteidiger Brauns

Auch Brauns Verteidiger hatten schon mehrfach eine Freilassung ihres Mandanten aus der Untersuchungshaft beantragt – vergeblich. Die Entscheidung zugunsten von Bellenhaus deutet nun laut Beobachtern darauf hin, dass das Gericht eher ihm Glauben schenkt als Braun. Dieser ist nun der letzte der drei Angeklagten, der in Untersuchungshaft bleiben muss.

Verteidiger werfen Richter Verschleierung vor

Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm warf der Münchner Justiz am Dienstag in einer empörten Stellungnahme einen „schmutzigen Deal hinter verschlossenen Türen“ vor, der zur Freilassung von Bellenhaus geführt habe.

Das Gericht wies das am Mittwoch in einer Stellungnahme zurück: „Haftprüfungstermine sind nicht öffentlich“, erklärte ein Sprecher. "Eine wie auch immer geartete Verständigung über das Strafverfahren ist in dem Haftprüfungstermin am 5.2.2024 nicht erfolgt. Es wurde allein über die Voraussetzungen des Haftbefehls und die Bedingungen einer Außervollzugsetzung verhandelt.

Das aber reichte Brauns Verteidigerteam nicht. Am Mittwoch warf es den Richtern Verschleierung vor. Rechtsanwalt Nico Werning wollte im Namen Brauns zunächst einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Markus Födisch und seine zwei Beisitzer stellen und im Saal vorlesen. Der Vorsitzende lehnte das ab und wies den Anwalt an, den Befangenheitsantrag schriftlich einzureichen. „Die Art und Weise, wie Sie hier die Verfahrensgänge verschleiern, spottet jeder Beschreibung“, beschuldigte Werning anschließend den Vorsitzenden. „Sie wollen einfach nicht, dass die Öffentlichkeit erfährt, was hier geschieht.“

Zeuge stützte Vorwurf der Scheingeschäfte

Wie lange der Monsterprozess noch dauern soll, ist unklar. Anfang Jänner wurden über 80 weitere Verhandlungstage bis Ende des Jahres fixiert. Von den bisher geladenen Zeuginnen und Zeugen wussten viele nichts. Jene, die etwas wissen, kommen häufig nicht, so wie der flüchtige frühere Vertriebsvorstand Marsalek.

Für Aufsehen aber sorgten dennoch einige Beteiligte, so erklärte eine kürzlich per Videovernehmung aus Bangkok zugeschaltete Zeugin, dass sie von Wirecard noch nie gehört habe. Doch ihre Unterschrift samt Passkopie findet sich in Firmenunterlagen. Die Verkäuferin war offensichtlich eine Strohfrau, laut ihrer Aussage ohne eigenes Wissen und Zutun.

Ein eigens aus Malaysia angereister japanischer Manager stützte den zentralen Anklagevorwurf der Scheingeschäfte. Laut Aussage von Yoshio Tomiie war Marsalek maßgeblich an der Gründung der Senjo-Firmengruppe in Singapur beteiligt. Senjo war laut Anklage eines der Firmenkonstrukte, über die nicht existente Kreditkartenzahlungen abgewickelt wurden.

Laut Tomiie hatte Senjo aber weder Personal noch Technik, um Zahlungsverkehr abzuwickeln. Ähnliche Firmen gab es laut Anklage in Dubai und auf den Philippinen.

Klestil über Marsalek

Interessant war ebenfalls der Auftritt des österreichischen Unternehmers Stefan Klestil Ende Jänner. Klestil war früher stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender von Wirecard. Er sagte vor Gericht aus, dass sich der Aufsichtsrat in den Monaten vor der Pleite nicht zu einer Entlassung Marsaleks durchringen konnte. „Das ist immer wieder diskutiert und überlegt worden“, so Klestil. Doch reichten die Indizien nach seinen Worten nicht aus.

„Wir sind immer wieder zu dem Schluss gekommen, dass die Suppe zu dünn ist.“ Dem früheren Chef Braun stellte Klestil einerseits ein gutes Zeugnis aus: „Da gab es ein tiefes Vertrauen der institutionellen Investoren gegenüber Braun.“ Andererseits berichtete auch Klestil, dass die Kontrolle im Aufsichtsrat schwierig war, weil der Vorstand Informationen spät lieferte und Entscheidungen sehr kurzfristig getroffen werden mussten.