Demonstrierende in Israel fordern einen Geiseldeal mit der Hamas
Reuters/Susana Vera
Israel vs. Hamas

Nächste Runde in Politpoker um Geiseldeal

Die Terrororganisation Hamas hat einen in Paris unter Führung der USA, Frankreichs, Ägyptens und Katars mit Israel ausgehandelten Geiseldeal abgelehnt – und stellt weitreichende eigene, von Israels Premier Benjamin Netanjahu am Mittwoch wieder zurückgewiesene Bedingungen. Das Schicksal der 136 Geiseln und jenes der Zivilbevölkerung in Gaza bleibt damit weiter unklar. Der Politpoker, von dem das Leben so vieler Menschen abhängt, geht weiter, und eine rasche Einigung wird unwahrscheinlicher. Die Hamas und Israel versuchen, den Druck auf die jeweils andere Seite zu erhöhen.

Der Gegenvorschlag der Hamas, der unter anderem der Nachrichtenagentur Reuters vorliegt, sieht drei Phasen von je 45 Tagen vor. In der ersten würden alle Frauen, Kinder und Ältere, die sich noch in Geiselhaft befinden, freigelassen – im Gegenzug für die Freilassung von Frauen und unter 19-jährigen Palästinensern in israelischer Haft. Zugleich fordert die Hamas den Start des Wiederaufbaus in Gaza und eine Vervielfachung der täglichen humanitären Hilfslieferungen.

In der ersten Phase fordert die Hamas keinen totalen israelischen Abzug und ein Kriegsende, aber ein Einstellen der Kämpfe und den Rückzug aus bevölkerungsreichen Bereichen – de facto also aus Chan Junis und Rafah, in denen sich auch ein Großteil der Hamas und deren Führung versteckt halten dürfte.

Zeitplan als De-facto-Kriegsende

Vor Umsetzung der zweiten Phase, in der die männlichen Geiseln gegen verurteilte palästinensische Terroristen ausgetauscht werden sollen, verlangt die Hamas eine Einigung auf die Beendigung des Krieges. In der dritten Phase – selbst bei sehr raschen Verhandlungen zwischen den Phasen wäre man damit Mitte Juli und mitten im US-Wahlkampf so weit – sollten Leichen ausgetauscht werden. Israel könnte wegen US-Drucks dann den Krieg de facto nicht wieder aufnehmen.

Cupal und El-Gawhary zu Verhandlungen in Nahost

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu lehnt den Vorschlag der Hamas für eine Feuerpause ab. Es gebe keine Alternative zum militärischen Kollaps der Hamas. Eine Analyse von ORF-Korrespondenten Tim Cupal und Karim El-Gawhary.

Kriegsende für Israel nicht akzeptabel

Nach allen bisherigen Äußerungen der israelischen Regierung – nicht nur Netanjahu, sondern auch von dem ins Kriegskabinett hinzugezogenen Zentrumspolitiker Benni Ganz – ist aber die Beendigung des Krieges gegen die Hamas eine nicht hinnehmbare Bedingung.

Das umso mehr, als die Terrororganisation zwar in Chan Junis im Süden schwer unter Druck ist, parallel aber im bereits von Israel eroberten Norden mittlerweile wieder versucht, Präsenz zu zeigen und damit Israel, vor allem aber der Zivilbevölkerung zu signalisieren, man sei weiter an der Macht. Israels Armee zog dort einen Großteil der Truppen ab, was die Hamas für sich zu nutzen versucht. Trotz aller militärischen Erfolge ist Israel weit davon entfernt, das selbstgesetzte Kriegsziel zu erreichen: die Zerstörung der Hamas – mittlerweile aufgeweicht zum Ziel, dass die Hamas weder militärisch noch administrativ künftig ein Faktor sein kann.

Provokante Forderung zu Tempelberg

Neben weiteren Bedingungen fordert die Hamas laut al-Jazeera und israelischen Medienberichten, dass der Zugang für Juden auf den Tempelberg radikal eingeschränkt werden soll. Das ist eine ebenso populistische wie Israel gegenüber vor allem provokative Forderung. Sie lässt eher darauf schließen, dass die Hamas an einem Deal zumindest derzeit nicht ernsthaft interessiert ist.

Denkbar wäre theoretisch allerdings eine Einigung zunächst nur auf die erste Phase. Die Hamas könnte sich in sechs Wochen wohl bis zu einem gewissen Grad reorganisieren – und darauf hoffen, dass diesmal der internationale Druck so stark wächst, dass Israel den Krieg nicht wieder aufnehmen kann. Aber auch Israels Armee, eigentlich auf kurze Kriege ausgerichtet, könnte eine solche Pause durchaus gut gebrauchen.

Netanjahu sieht Sieg über Hamas in Reichweite

Eine deutliche Absage für den Hamas-Vorschlag für eine Feuerpause kam am Mittwochabend von Netanjahu. Nur ein totaler Sieg werde es Israel erlauben, Sicherheit wieder herzustellen, sagte der israelische Premier in Jerusalem bei einer Pressekonferenz. Es gebe keine Alternative zum militärischen Kollaps der Hamas. Zur Befreiung der im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Geiseln sei anhaltender militärischer Druck nötig.

Der Sieg sei in Reichweite, er sei eine Frage von Monaten, wie Netanjahu, der sich kurz zuvor auch mit US-Außenminister Antony Blinken getroffen hatte, sagte. Netanjahu schloss zudem jegliche Vereinbarung aus, die der Hamas die vollständige oder teilweise Kontrolle über den Gazastreifen überlässt. Israel sei die „einzige Macht“, die die Sicherheit langfristig garantieren könne.

Hinweis auf bevorstehende Rafah-Offensive

Zur Umsetzung der im Gazastreifen gesetzten Kriegsziele hat Netanjahu nach eigenen Worten die israelische Armee angewiesen, einen Einsatz in der Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens „vorzubereiten“. Über einen möglichen Einsatz von Bodentruppen im im südlichsten Teil Gazas wird seit Tagen spekuliert. In und rund um Rafah befinden sich mit den vielen aus dem Norden Geflüchteten rund 1,3 Mio. Menschen. Neben den Geiseln wird aber auch die Hamas-Führung in den dortigen Tunneln vermutet.

Allerdings müsste Israel dafür Hunderttausende Menschen – teils erneut – vertreiben. Zudem gibt es bisher keine Einigung mit dem angrenzenden Ägypten, das eine Massenflucht von Palästinensern in den Nordsinai befürchtet und für diesen Fall sogar schon mit der Aufkündigung des Friedensabkommens mit Israel drohte. Umgekehrt würde die Eroberung Rafahs und des Grenzstreifens zu Ägypten die Hamas von ihrer wichtigsten ober- und unterirdischen Nachschublinie und vom letzten Fluchtweg abschneiden.

Beide Seiten intern tief gespalten

Für eine Befriedung und erst recht das Finden eines Kompromisses fehlt nach wie vor auf beiden Seiten eine wesentliche Voraussetzung: eine interne Einigkeit über den weiteren Weg im mehr als ein Jahrhundert alten Konflikt um Land und nationale Identität und Unabhängigkeit. Netanjahu weigert sich weiter, eine Strategie, wie es nach dem Krieg weitergehen soll, zu entwickeln. Den US-Plan, dass eine reformierte Autonomiebehörde statt der Hamas die Macht in Gaza übernimmt, lehnt Netanjahu bisher vehement ab.

Eine realistische Alternative dazu hat Israels Regierungschef freilich nicht. Netanjahu kämpft weiter ums politische Überleben – und Neuwahlen sind, über kurz oder lang, unausweichlich. Allerdings fehlt auch den derzeitigen Gegenspielern Netanjahus eine Strategie zu einer Beilegung des Konflikts mit den Palästinensern.

Und aufseiten der Palästinenser sind interne Probleme und Zerstrittenheit mindestens ebenso groß. Geredet wird nun wieder von einer – bereits in der Vergangenheit gescheiterten – Kooperation der Fatah-Fraktion des greisen Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas und der Hamas.

US-Streben nach großer Neuordnung

Verhandelt wird derzeit auf vielen Ebenen gleichzeitig. Die USA versuchen weiterhin, die Katastrophe in eine Chance umzuwandeln, und streben eine große Neuordnung des Nahen Ostens an. Blinkens Ziel ist es, eine Allianz von Ägypten über Israel bis Saudi-Arabien reichend gegen den Iran und seine Alliierten (Hisbollah, Hamas und Huthis) zu schmieden. Den Saudis bietet Washington einen begehrten, umfassenden Sicherheitspakt an. Riad machte aber am Mittwoch klar, dass sich Israel vorher zur Errichtung eines Palästinenserstaates klar verpflichten muss.

Verheißungsvoll und ebenso unsicher

So verheißungsvoll der US-Plan für einen großen Umbau im Nahen Osten klingt, mindestens ebenso unsicher ist die Realisierung. Selbst bei einer Grundsatzeinigung würde die Realisierung mehrere Jahre erfordern. Den vielen Akteuren – auf Makroebene kommen Russland und China dazu – würde das unzählige Gelegenheiten bieten, die Umsetzung zum Entgleisen zu bringen.