Ungarischer Premier Viktor Orban
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Pädophilieskandal

Orban „kann Feuer nicht austreten“

Seit Jahren baut die ungarische Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orban das Land gemäß eigenen Vorstellungen um, staatliche Institutionen sind auf Linie gebracht worden, die Opposition marginalisiert. Doch auf einen Schlag steht Orbans FIDESZ-Partei in der Defensive, ein Pädophilieskandal sorgt für beispiellose Entwicklungen. Und nachdem am Freitag in Budapest Zehntausende Menschen auf die Straße gingen, wird am Samstag mit Spannung Orbans Rede zur Lage der Nation erwartet.

Den Ausgang nahm der Skandal bei FIDESZ-Politikerin Katalin Novak. Die seit Mitte 2022 amtierende Staatspräsidentin musste nach breiter öffentlicher Empörung zurücktreten. Bekannt wurde nämlich, dass sie einen Mann begnadigen ließ, der wegen Vertuschung pädophiler Straftaten verurteilt worden war. Die Begnadigung hatte schon im April 2023 während des Papst-Besuchs in Budapest stattgefunden – publik wurde der Fall aber erst jetzt.

Konsequenzen musste auch Ex-Justizministerin Judit Varga ziehen, sie hatte den Begnadigungsantrag gegengezeichnet. Varga legte ihr Abgeordnetenmandat nieder und – besonders folgenschwer – muss auch auf die FIDESZ-Spitzenkandidatur für die EU-Wahl verzichten. Zwei hochrangige Rücktritte und damit Einschläge in das System Orban. Um den Schaden zu begrenzen, reagierte Orban mit einem Plan für eine Verfassungsänderung: Straftäter, deren Tatopfer Kinder sind, dürften demzufolge ausnahmslos nie begnadigt werden dürfen.

Ungarische Präsidentin Katalin Novak
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„Ich habe einen Fehler gemacht“: Die ehemalige Orban-Vertraute Novak musste als Staatspräsidentin abtreten

„Regierung kann Debatte nicht beenden“

Es war eine Reaktion auf die unter anderem von der Opposition in Gang gesetzten Proteste – Tausende hatten in Budapest den Rücktritt von Staatschefin Novak gefordert. Doch ist das alles eine Bedrohung für Orban? Zwar habe es schon davor Skandale um FIDESZ-Politiker gegeben, so Osteuropaexperte Tobias Spöri von der Uni Wien zu ORF.at. Doch sei nun „sehr speziell, dass es der Regierung nicht gelingt, dieses Feuer auszutreten und die Debatte zu beenden“, so Spöri. Das Einbringen des Begnadigungsverbots zeige, dass eine „gewisse Unruhe“ bestehe.

Ungarische Justizministerin Judit Varga
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Ex-Justizministerin Varga vertrat als Ministerin einen starken Anti-Brüssel-Kurs. Ein starkes Profil für den EU-Wahlkampf – diesen führt sie nun aber nicht mehr.

„Extremes Wettern gegen inneren Kreis“

Unruhe brachte auch eine weitere Entwicklung: So trat nach dem Rücktritt von Ex-Justizministerin Varga deren Ex-Mann Peter Magyar an die Öffentlichkeit. Dieser übte unverblümt Systemkritik und kündigte an, alle seine Posten in staatsnahen Unternehmen niederzulegen. „Er wetterte extrem gegen den innersten Kreis von FIDESZ, dabei ist er selbst Teil des Systems“, so Spöri. Magyar sagte, er wolle „nicht Teil eines Systems sein (…), in dem die Verantwortlichen sich hinter Frauenröcken verstecken.“

In einem Videointerview mit dem Onlinemedium bzw. YouTube-Kanal Partizan legte Magyar dann noch einmal nach und erzählte von dem immensen Kontrolldruck, den seine Familie erfahren habe, aber auch von dem Unbehagen, weil sich „die Wirtschaft des Landes in der Hand von zwei, drei Familien“ befinde. Die öffentliche Aufmerksamkeit war riesig: „Normalerweise haben diese Videos ein paar tausend Klicks, dieses Video hatte 1,6 Millionen Views“, sagt der Politologe Spöri.

Politikinsider Peter Magyar während einer TV-Sendung
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Magyar legte via Partizan die Karten auf den Tisch und ließ kein gutes Haar an jenem System, dessen Teil er selbst ist

„Bild einer geeinten Partei getrübt“

Die Äußerungen Magyars werfen „ein Licht auf das Innenleben“ der Regierung – das Bild einer geeinten Partei, „deren Hauptziel die Lösung nationaler Interessen ist“, werde getrübt, meint der Experte Bulcsu Hunyadi vom unabhängigen Budapester Institut Political Capital gegenüber ORF.at. Die Motivation für die Äußerungen sieht er vor allem im persönlichen Bereich, „um die Glaubwürdigkeit seiner Ex-Frau zu retten“. Dennoch liefere er Medien und Opposition Stoff, womit das Thema präsent gehalten werden könne.

„Radikale Maßnahmen notwendig“

Generell beschreibe der Rückzug von Orbans EU-Spitzenkandidatin Varga und Staatspräsidentin Novak die Tragweite die Situation: „Es ist ein sehr großes Signal in die Partei, dass jetzt zwei Politikerinnen zurückgetreten sind, die zum engsten Kreis gehören, sehr loyal sind und auch zentrale Rollen innehatten“, so Spöri. Ex-Justizministerin Varga vertrat als Ministerin eine starke Anti-Brüssel-Linie. „Dass Orban sie nun opfert, ist ein großes Signal, wonach offensichtlich radikale Maßnahmen notwendig sind“, um die Lage zu beruhigen.

Am Freitag folgte dann der nächste Rücktritt: So legte Zoltan Balog, Leitender Bischof der ungarischen Reformierten Kirche, sein Amt zurück. Laut Medienberichten hatte er als langjähriger Mentor von Staatspräsidentin Novak eine Schlüsselrolle bei der Begnadigung gespielt. Er soll der Staatspräsidentin vorgeschlagen haben, eine Amnestie zu gewähren.

„Kratzt massiv an der Glaubwürdigkeit“

Aufsehenerregend ist der Fall auch deshalb, weil er inhaltlich die Parteilinie konterkariert, Experte Hunyadi spricht von einem „zentralen Element der Identität“ von FIDESZ, das nun untergraben werde. In den letzten Jahren habe FIDESZ den Kinderschutz zu einem der Eckpfeiler ihrer politischen Agenda gemacht und politische Gegner häufig der Pädophilie bezichtigt. Auch wurde ein Kinderschutzgesetz geschaffen, dass Pädophilie und Homosexualität in einen Topf werfe, so Hunyadi.

Ähnlich Experte Spöri: „Novak war (vor ihrem Amt der Staatspräsidentin, Anm.) auch noch Familienministerin, sie hat sich besonders stark dafür eingesetzt.“ Durch den Skandal getroffen werde ein „Kernthema von FIDESZ und deren Wählerschaft – und das kratzt natürlich massiv an der Glaubwürdigkeit“, so Spöri. Dennoch seien die Hochburgen von FIDESZ im ländlichen Raum, und in diesen dringen viele der aktuellen Entwicklungen möglicherweise gar nicht vor.

Orban wird Fall wohl „überdecken“ wollen

Doch je länger der Skandal öffentlich thematisiert wird, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sich mobilisieren lassen, meint Experte Spöri. Orban werde sich in der Rede zur Lage der Nation am Samstag wohl einmal mehr als „Beschützer der Nation darstellen“. Wenn er überhaupt auf den Fall eingehen sollte, werde er wohl darauf verweisen, dass die Rücktritte „nur ein Zeichen dafür sind, wie moralisch integer FIDESZ eigentlich ist“.

Jedenfalls werde Orban wohl versuchen, das Heft wieder in die Hand zu nehmen, den Begnadigungsfall zu überdecken und die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema zu lenken, meint der Budapester Experte Hunyadi. Die Vorarbeit für diese Strategie leistete am Freitag bereits FIDESZ-Kanzleiminister Gergely Gulyas, der die Causa für beendet erklärte. Es sei alles geschehen, was geschehen habe müssen, sagte der Minister.

Zehntausende auf Budapester Heldenplatz

In Ungarn sind am Freitag Zehntausende Menschen gegen eine Begnadigung in einem Missbrauchsfall auf die Straße gegangen. Zu den Protesten auf dem Heldenplatz im Budapester Stadtzentrum hatten Prominente aus der Musik- und Kulturszene sowie Influencer aufgerufen.

Dass viele im Land nicht dieser Ansicht sind, zeigten die Zehntausenden Menschen, die sich Freitagabend zu einer der größten Demos seit Jahren auf dem Budapester Heldenplatz versammelten. Letztlich abzulesen sein werden allfällige Folgen am Ergebnis der EU-Wahl sowie der Wahl im derzeit oppositionell regierten Budapest im Juni, wo FIDESZ alles dafür tut, um auch dort die Macht zu erlangen. Klar sei jedenfalls eines, so Experte Hunyadi: Der Fall berge für die Regierung „erhebliche Risiken“.