Ukrainische Truppen nahe Awdijiwka
APA/AFP/Genya Savilov
„Unmenschliche Bedingungen“

Ukraine meldet Rückzug aus Awdijiwka

Die ukrainische Armee hat sich nach eigenen Angaben aus der seit Monaten umkämpften ostukrainischen Stadt Awdijiwka zurückgezogen. Die Soldaten hätten sich „entsprechend einem Befehl aus Awdijiwka auf zuvor vorbereitete Stellungen zurückgezogen“, teilte der für den Frontabschnitt zuständige General Olexandr Tarnawskij in der Nacht auf Samstag mit. Der Abzug der Truppen zeichnete sich nach einem ersten, am Donnerstag bekanntgegebenen Teilrückzug zuletzt ab. Beobachter sprechen vom größten symbolischen Sieg Russlands seit dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer.

Die ukrainische Militärführung will die Stadt aber offenbar nicht aufgeben. Man werde zurückkehren, verbreitete der neue ukrainische Oberbefehlshaber Olexandr Syrskyj Optimismus. „Angesichts der operativen Lage um Awdijiwka“ habe er aber „beschlossen, die ukrainischen Einheiten aus der Stadt abzuziehen und auf günstigeren Linien in die Verteidigung zu gehen, um eine Einkreisung zu vermeiden und das Leben und die Gesundheit der Soldaten zu schützen“.

Nach ihrem Rückzug haben sich die ukrainischen Truppen auf einer neuen zweiten Verteidigungslinie westlich der Industriestadt im Donezker Gebiet festgesetzt. „Die Intensität der Kampfhandlungen hat sich nach Mitternacht bis sechs Uhr (5.00 Uhr MEZ) verringert“, sagte Militärsprecher Dmytro Lychowij im ukrainischen Fernsehen. Nach dem Höhepunkt der Angriffe am Vortag werde eine kürzere Ruhepause seitens der Russen erwartet. Unklar bleibt, auf welche Linie sich die ukrainischen Truppen zurückgezogen haben.

Fabrik nahe Awdijiwka
Reuters/Alexander Ermochenko
Awdijiwka ist seit Oktober schwer umkämpft

Erinnerung an Bachmut

Russische Truppen versuchen seit Oktober 2023 unter hohen Verlusten, Awdijiwka zu erobern. Die ehemalige Industriestadt war seit 2014 Vorposten der Ukraine in unmittelbarer Nähe zu Donezk, der russisch beherrschten Hauptstadt des Kohle- und Stahlreviers Donbass.

Eine Eroberung der Stadt durch russische Truppen sei zwar strategisch nicht bedeutend, sie lasse sich aber vom Kreml vor der russischen Präsidentenwahl im März propagandistisch ausschlachten, schrieben die Experten des US-amerikanischen Instituts für Kriegsstudien (ISW). Zuletzt hatte die Ukraine im Frühjahr 2023 die ebenfalls monatelang umkämpfte Stadt Bachmut aufgeben müssen. Der Fall von Awdijiwka ist seitdem der größte Rückschlag für die Ukraine.

„Einzig richtige Entscheidung“

„In einer Situation, in der der Feind unter ständigem Bombardement über die Leichen seiner eigenen Soldaten vorrückt und dabei einen Vorteil von zehn zu eins hat, ist das die einzig richtige Entscheidung“, teilte der für diesen Frontabschnitt zuständige Tarnawskyj auf Telegram mit. Die Einkesselung sei verhindert worden, das Personal abgezogen, die Soldaten nähmen die Verteidigung an den vorgesehenen Linien auf.

Ukraine gibt Awdijiwka auf

Die ukrainische Armee hat sich nach eigenen Angaben aus der seit Monaten umkämpften ostukrainischen Stadt Awdijiwka zurückgezogen. Der ukrainische Rückzug ist der größte symbolische Sieg Russlands seit dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer.

In den vergangenen Tagen war die Lage für die ukrainischen Verteidiger in der Stadt immer schwieriger geworden. Diese wehrten sich unter „unmenschlichen Bedingungen“, schrieb der Pressedienst der in Awdijiwka eingesetzten 110. Brigade der ukrainischen Armee am Freitag auf Facebook. „Heute wirft der Feind enorme Kräfte in Form von Personal, gepanzerten Fahrzeugen und Flugzeugen in Richtung Awdijiwka.“

ISW: Russland über mehrere Seiten vorgerückt

Russische Truppen seien von mehreren Seiten vorgerückt, analysierten die ISW-Experten in ihrem Tagesbericht für Donnerstag. Durch Fotos sei belegt, dass russische Truppen von Norden her an der großen Kokerei von Awdijiwka vordringen. Im Süden der Stadt sei eine wichtige befestigte Verteidigungsanlage der Ukrainer erobert worden. „Russische Truppen können die Einkesselung einiger ukrainischer Kräfte vollenden, wenn die ukrainischen Truppen sich nicht zurückziehen oder erfolgreiche Gegenangriffe unternehmen“, folgerten die Beobachter.

Die ukrainische Seite hatte bereits am Donnerstag berichtet, dass sich ihre Truppen aus einigen vorgeschobenen Stellungen zurückziehen. Tarnawskyj sprach davon, dass noch Verstärkungen in bedrohte Gebiete gebracht würden. Aber er sagte auch, dass neue Stellungen vorbereitet würden. „Wir schätzen jedes Stück ukrainischen Bodens, aber der höchste Wert und die höchste Priorität für uns ist es, das Leben der ukrainischen Soldaten zu retten“, schrieb der General auf Telegram.

Selenskyj: „Professionelle Entscheidung“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj begründete den Rückzug aus der seit Monaten hart umkämpften ostukrainischen Stadt Awdijiwka mit dem Schutz von Menschenleben. Es handle sich um eine „professionelle Entscheidung, um so viele Leben wie möglich zu retten“, sagte Selenskyj am Samstag bei der Münchner Sicherheitskonferenz.

Die ausbleibenden Erfolge der Ukraine im Krieg gegen Russland begründete Selenskyj mit einem Mangel an Artillerie und Waffen mit hoher Reichweite. Dieses „künstliche Waffendefizit“ führe dazu, „dass aktuell mit dieser hohen Intensität nicht gekämpft werden kann“, sagte Selenskyj am Samstag auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Selenskyj war das erste Mal seit Beginn des Ukrainekrieges persönlich auf der Sicherheitskonferenz. Im vergangenen Jahr war der ukrainische Präsident per Video zugeschaltet.