Tempelberg in Jerusalem
ORF.at/Gerald Heidegger
Tempelberg

Netanjahus gefährliches Politmanöver

Mitten im Krieg mit der Hamas im Gazastreifen hat Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu nun angekündigt, im bevorstehenden islamischen Fastenmonat Ramadan den Zutritt zum Tempelberg in Jerusalem für israelische Muslime zu beschränken. Die Details sind noch unklar, aber die Ankündigung könnte die ohnehin dramatische Lage auch innerisraelisch eskalieren lassen. Netanjahu kommt damit vor allem seinen rechtsextremen Koalitionspartnern entgegen, von denen er mittlerweile abhängig ist.

Der Zugang zum Tempelberg, arabisch Haram al-Scharif, soll während des islamischen Fastenmonats Ramadan, der am 10. März beginnt, für israelische Muslime beschränkt werden. Netanjahu unterstütze die entsprechende Position seines rechtsextremen Ministers für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir. Das berichteten israelische Medien nach einem Treffen des Sicherheitskabinetts, das am Sonntag stattfand.

Netanjahu soll die Sicherheitsbeamten angewiesen haben, dem Kabinett Optionen für Alterskriterien und Quoten für israelische Muslime vorzulegen, die während des Ramadan an der heiligen Stätte beten wollen. Das Büro des Ministerpräsidenten erklärte, Netanjahu habe „eine ausgewogene Entscheidung getroffen, die Religionsfreiheit mit den notwendigen Sicherheitsgrenzen, die von professionellen Beamten festgelegt wurden, zulässt“. Details zu der Entscheidung oder möglichen Einschränkungen nannte das Büro nicht.

Nahost-Konflikt hoch konzentriert

Im Streit über das Anrecht auf den Tempelberg und den Zugang dazu – insbesondere im Ramadan – spiegelt sich der gesamte Nahost-Konflikt in hoch konzentrierter Dosis, da noch um die religiöse Dimension verstärkt. Das führt seit Jahren immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Arabische Knesset-Abgeordnete warnten noch Sonntagabend vor dem Ausbrechen einer neuen Intifada.

Menschen beim Freitagsgebet im Ramadan 2023 am Tempelberg
IMAGO/ZUMA Wire/Saeed Qaq
Freitagsgebet auf dem Tempelberg im Ramadan 2023

Dabei haben sich die arabischen Israelis – immerhin mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung – bisher „mustergültig“ ruhig und besonnen verhalten, sind sich israelische Medien und ein Gros der Politik seit Monaten einig. Das Kalkül der Hamas, mit dem Überfall neben der Hisbollah auch die Palästinenser im besetzten Westjordanland und in Israel selbst zum Eröffnen weiterer Fronten zu bringen, schlug bisher fehl.

Kampf um politisches Überleben im Fokus

Die Brisanz von Zugangsbeschränkungen zum Tempelberg ist Netanjahu natürlich bestens bekannt. Doch er kämpft seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober – der auch ein völliges Versagen des israelischen Staates, seine Bürger zu schützen, war – um sein politisches Überleben. Viele Kritiker werfen dem Regierungschef vor, auch deshalb den Krieg in die Länge zu ziehen. Denn das Schlimmste aus seiner Sicht – weil das sichere Ende seiner Karriere – wäre eine rasche Neuwahl.

Für israelische Verhältnisse regiert Netanjahu zwar mit einer deutlichen Mehrheit von 64 der insgesamt 120 Mandate. Doch die beiden rechtsnationalen bis rechtsextremen Parteien Ozma Jehudit (Jüdische Stärke) von Ben-Gvir und Ha-Zionut ha-Datit (Religiöser Zionismus) von Finanzminister Besalel Smotritsch haben genügend Mandate, um Netanjahu zu stürzen. Angesichts des verstärkten Rechtsrucks in der israelischen Gesellschaft seit dem 7. Oktober würde Ben-Gvir laut Umfragen von Neuwahlen stark profitieren und der Likud mit Netanjahu abstürzen.

Benjamin Netanjahu und Ben-Gvir
AP/Ohad Zwigenberg
Netanjahu und Ben-Gvir in der Knesset

Netanjahu braucht Ben-Gvir

Der in der Vergangenheit mehrmals wegen Hetze verurteilte Sicherheitsminister Ben-Gvir forderte seit dem 7. Oktober immer wieder ein hartes Vorgehen gegen Palästinenser im besetzten Westjordanland und äußerte häufig sein Misstrauen gegenüber israelischen Palästinensern. Er fordert auch, mit aller Härte und kompromisslos an allen Fronten zu kämpfen, zugleich spaltet er mit Erleichterungen beim Zugang für Bürger zu Waffen die Gesellschaft und sorgte für ein US-Embargo der Lieferung von Schusswaffen für den Privatgebrauch nach Israel.

Daueraffront für Liberale

Netanjahu kommt auch in der aktuellen Kriegssituation Forderungen seiner rechtsnationalen und religiösen Koalitionspartner nach, die oft einen direkten Affront für die liberale Bevölkerung darstellen: etwa ein Rekrutierungsgesetz, das Orthodoxe von der Militärpflicht befreit, und ein Budget, das Hunderte Millionen in die Siedlungen in Ostjerusalem und dem Westjordanland leitet.

Provokant ist das deshalb, weil die säkular-liberale und religiös-liberale Bevölkerung überwiegend die wirtschaftliche Last trägt und auch das Gros der Soldatinnen und Soldaten stellt, die oft mit ihrem Leben bezahlen. Aus ihnen rekrutiert sich allerdings auch ganz überwiegend das Lager der Gegner von Netanjahu.

Kontrolle verloren

Es ist ein Treppenwitz: Netanjahu ist nun vom Wohlwollen Smotritschs und vor allem Ben-Gvirs abhängig, nachdem er sie zuvor erst „groß“ machte: Beide waren jahrelang nur Randerscheinungen der israelischen Innenpolitik, doch Netanjahu legitimierte sie systematisch und über Jahre hinweg, weil er sie als Mehrheitsbeschaffer brauchte. Der mehrjährige Rechtsruck in Israel, fehlende überzeugende Alternativen und der andauernde Krieg verhindern bisher auch einen Massenprotest, der Netanjahus Rücktritt erzwingen würde, oder einen erfolgreichen Misstrauensantrag in der Knesset und eine Neuwahl.

Israelische Polizisten überwachen 2023 von einem Dach aus palästinensische Gläubige am Weg zum Freitagsgebet am Tempelberg
AP/Mahmoud Illean
Menschen im Ramadan 2023 am Grenzübergang in Bethlehem auf dem Weg zum Freitagsgebet in Jerusalem

Laut „Haaretz“ kam bei der Sitzung des Sicherheitskabinetts heraus, dass Beschränkungen für israelische Bürger nicht generalisiert – etwa nur ab einem gewissen Alter –, sondern nur ad personam verhängt werden können; etwa, wenn diese in sozialen Netzwerken Hassrede betreiben. Der gemäßigte Oppositionspolitiker Benni Ganz, der nach dem 7. Oktober dem Kriegskabinett beitrat, betonte, es seien „reine Sicherheitsmaßnahmen“ nötig. Doch allein die Nachricht, dass es Beschränkungen geben soll, kann reichen, um die Lage außer Kontrolle geraten zu lassen. Ben-Gvir feierte die Sitzung als Erfolg und behauptete auf Twitter, er habe sich mit seinen Forderungen durchgesetzt.

Den Überfall auf Israel am 7. Oktober nennt die Hamas selbst „Operation Al-Aksa-Flut“. Die Terrororganisation versucht seit Jahren immer wieder, sich zur Verteidigerin des Tempelbergs für Muslime hochzustilisieren. Das verfing bisher nicht. Netanjahus tatsächliches oder scheinbares Nachgeben gegenüber Ben-Gvir könnte der Hamas helfen, in diese Rolle zu schlüpfen.