Junges Mädchen auf einem Roller vor einer zerstörten Häuserfront im Dorf Horenka in der Region Kiew
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In Patt gefangen

Ukraine geht in drittes Kriegsjahr

Der Krieg in Europa ist wieder zum Dauerzustand geworden. Am 24. Februar begeht die Ukraine den zweiten Jahrestag des russischen Überfalls. Vor allem die zurückliegenden zwölf Monate zeigten, dass es kein rasches Ende geben wird. Die ukrainische Gegenoffensive gilt als gescheitert, die Unterstützung im Westen wackelt.

„Wir haben überlebt. Wir wurden nicht besiegt. Und wir werden alles dafür tun, dieses Jahr zu gewinnen.“ Diese Worte richtete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 24. Februar vor einem Jahr an seine Landsleute. Botschaften wie diese sind zum täglichen Brot für Selenskyj und die Bevölkerung geworden, allabendlich gibt der Präsident online Updates zum Krieg und versucht, den Optimismus zu halten.

Die tatsächliche Lage allerdings gibt dazu wenig Anlass. Fachleute sind sich einig: Ukrainisches und russisches Militär haben sich in eine Pattstellung manövriert, doch Russland sitzt am längeren Ast. Der Kreml spielt auf Zeit, während der Nachschub für die Ukraine zunehmend langsamer ans Ziel kommt.

Schock und Trotz

Das erste Kriegsjahr war vor allem vom Schock begleitet, wie es dazu kommen konnte. Trotz der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim vor zehn Jahren hatte kaum jemand den Überfall auf das ukrainische Festland vorhergesehen. Russland scheiterte an seinen Plänen, die Ukraine im Blitzkrieg zu nehmen.

Selenskyj, der gleich zu Beginn der Kampfhandlungen hätte gefangen genommen werden sollen, wandelte sich zum Kriegsherren. Die Ukraine stellte sich als überraschend wehrhaft heraus, doch Massaker wie in Butscha, die wochenlange Schlacht um das Stahlwerk Asow-Stahl in Mariupol und die Annexionen der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk zehrten an mentalen und physischen Kräften.

Durchhalteparolen dominieren

Das zweite Kriegsjahr war entsprechend von Durchhalteparolen geprägt. Im Frühjahr des vergangenen Jahres nahmen die Invasionstruppen Bachmut ein. Früher lebten hier gut 70.000 Menschen, nach langen, blutigen Kämpfen ist die Stadt in der Oblast Donezk dem Erdboden gleich. Auch Kiew wurde im Frühjahr nächtelang beschossen, zeitgleich griff Russland verstärkt die ukrainische Infrastruktur an.

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Luftaufnahme des schwer beschädigten Staudamms Kachowka und Überschwemmungen rundherum
APA/AFP/Energoatem
Es war ein Tiefpunkt des vergangenen Kriegsjahres: Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms und des angrenzenden Wasserkraftwerks
Mann auf Fahrrad auf einer überschwemmten Straße in Kherson, Ukraine
APA/AFP
Hunderte Quadratkilometer Land wurden geflutet
Satellitenbild zeigt Überschwemmungen in Kherson, Ukraine
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Der Damm diente auch der Trinkwasserversorgung und der Bewässerung des südlichen Teils der Ukraine, der bereits zu den trockensten Gebieten des Landes zählte
Schwer beschädigter Staudamm Kachowka und Überschwemmungen rundherum
APA/AFP/Various Sources
Die Folge war auch ein Massensterben von Wasserorganismen. Zudem gelangten durch die Flut Müll, Chemikalien und andere Stoffe ins Wasser, gleichzeitig funktionierten Kläranlagen und Kanalisation nicht mehr.
Überschwemmtes Gebiet rund um die Antonovskiy-Brücke in Kherson, Ukraine
APA/AFP/Oleg Tuchynsky
Der Stausee lieferte auch das Kühlwasser für das von der russischen Armee besetzte Atomkraftwerk Saporischschja
Zwei Personen auf einem Schlauchboot auf einer überschwemmten Straße in Kherson, Ukraine
APA/AFP/Oleksii Filippov
Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach nach der Zerstörung des Damms von „der größten von Menschen verursachten Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“

Einschneidend für das gesamte Land war der Kollaps des Kachowka-Staudamms, der den Dnipro zu einem riesigen See aufstaute. Das dazugehörende Wasserkraftwerk wurde zerstört, Unmengen Wasser strömten den Dnipro hinab und überfluteten weite Teile der Oblast Cherson.

Beide Kriegsparteien machten den jeweils anderen verantwortlich. Die Zerstörung des Damms hatte laut UNO schwerwiegende Folgen für Tausende Menschen auf beiden Seiten der Front sowie auf Tier- und Umwelt.

Satellitenbild des Kachowka-Stausees bei Saporischschja einen Tag vor der Zerstörung des Staudamms (5.6.2023)
Satellitenbild des Kachowka-Stausees bei Saporischschja zwei Wochen nach der Zerstörung des Staudamms (20.6.2023)
Copernicus Sentinel Copernicus Sentinel
Satellitenbilder des Kachowka-Stausees einen Tag vor und zwei Wochen nach der Zerstörung des Staudamms

Ein Söldner rebelliert

Auch wenn sich das Kriegsglück für die Ukraine nicht einstellen wollte, für Aufsehen sorgte zumindest Schützenhilfe von gar unerwarteter Richtung: Im Sommer rebellierte der Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, der zuvor schon die russische Militärspitze monatelang öffentlich kritisiert hatte. Er wollte seine Wagner-Söldner bei einem „Marsch der Gerechtigkeit“ gen Moskau führen. Die Söldner nahmen auch Rostow am Don ohne Widerstand ein, wo das russische Militär sein Hauptquartier für den Krieg in der Ukraine hat.

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Jewgeni Prigoschin, Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner
APA/AFP/@ Razgruzka_vagnera/Telegram
Ein Söldner will eigene Wege gehen: Jewgeni Progoschin, bekannt als „Putins Koch“, hat im Juni 2023 für internationales Staunen gesorgt, als er sich gegen den Kreml gewandt hat. Per Telegram ließ er die Welt wissen, seine Wagner-Truppe fühle sich von der Armee im Stich gelassen. Er habe 25.000 Mann unter Befehl, die nun aufzuklären hätten, warum solch eine Willkür im Land herrsche, so drohte Prigoschin.
Jewgeni Prigoschin, Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner
APA/AFP/Various Sources
Noch am Abend des 23. Juni leitete der Geheimdienst FSB Ermittlungen gegen Prigoschin wegen versuchten bewaffneten Aufstands ein. Prigoschin erklärte, es handle sich um keinen Militärputsch, sondern einen „Marsch der Gerechtigkeit“, den er nun Richtung Moskau unternehmen werde.
Straßensperre auf einer Autobahn vor Moskau
APA/AFP/Natalia Kolesnikova
In der folgenden Nacht wurde Prigoschin im Staatsfernsehen als in Ungnade gefallen bezeichnet. Der FSB rief die Wagner-Kämpfer dazu auf, ihren Chef festzusetzen. Im Stadtzentrum Moskaus tauchten gepanzerte Fahrzeuge auf, wichtige Einrichtungen wurden verstärkt unter Bewachung genommen.
Ein vermummtes Mitglied der Wagner-Söldnergruppe steht vor einem Gebäude des russischen Militärs in Rostov-on-Don
APA/AFP
Prigoschin gab kurz darauf bekannt, dass seine Kämpfer die Grenze Richtung Rostow am Don überschritten hätten. Man habe militärische Einrichtungen besetzt, darunter das regionale Hauptquartier und den Flugplatz.
Russlands Präsident Wladimir Putin
Reuters/Sputnik Photo Agency
Am Morgen des 24. Juni rief das Verteidigungsministerium die Wagner-Kämpfer zum Aufgeben auf. Sie seien von Prigoschin in ein „kriminelles Abenteuer“ gezogen worden. Putin kündigte in einer fünfminütigen TV-Ansprache die Bestrafung von „Verrätern“ an, ohne Prigoschin beim Namen zu nennen. Prigoschin aber widersprach: Seine Männer seien „Patrioten“. Die Wagner-Söldner würden ihren Kampf fortsetzen und sich keinesfalls ergeben.
Belarussischer Präsident Alexander Lukashenko
APA/AFP/Alexander Nemenov
Die Wagner-Söldner kamen auf ihrem Marsch etwa auf halbem Weg nach Moskau zum Stehen. Hinter den Kulissen wurde unter Vermittlung des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko verhandelt – dieser teilte schließlich überraschend mit, dass Prigoschin zur Aufgabe bewogen worden sei.
Jewgeni Prigoschin, Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner
APA/AFP/@concordgroup_official/Telegram
Prigoschin bestätigte die Einigung per Sprachnachricht, der Vormarsch war beendet. „Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück.“ Der Kreml stellte seinerseits das Strafverfahren gegen Prigoschin ein. Der Wagner-Chef selbst ging zunächst nach Belarus.
Brennendes Flugzeug in der Nähe des Dorfs Kuzhenkino, Russland
APA/AFP/@grey_zone/Telegram
Das Ende vom Lied: Im August, kaum zwei Monate nach dem abgebrochenen Aufstand, kam Prigoschin beim Absturz eines Wagner-Flugzeugs ums Leben. Auch Prigoschins Vertrauter Dmitri Utkin befand sich unter den Opfern.
Gedenkort für Jewgeni Prigoschin, Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner, in Novosibirsk
APA/AFP/Vladimir Nikolayev
Prigoschins Tod wurde in Russland betrauert, doch überraschend kam er nicht. Er war weder der Erste noch der Letzte, derer sich der Kreml entledigte.

Wenige hundert Kilometer vor Moskau aber stoppte Prigoschin die Rebellion, mit der er die Absetzung der offiziellen Militärführung erreichen wollte. Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko vermittelte daraufhin zwischen Putin und Prigoschin, der Söldnerchef floh nach Belarus ins Exil und kehrte wenig später wieder nach Russland zurück. Lange währte Prigoschins Freiheit nicht. Am 23. August starb er beim Absturz seines Flugzeugs – unter nicht geklärten Umständen.

Krieg der Abnützung

Die lang erwartete Gegenoffensive der Ukraine hatte schon im Frühsommer begonnen, doch ist sie nie richtig in die Spur gekommen. Im Herbst unternahmen die russischen Streitkräfte die stärksten Angriffe seit Jahresbeginn, Ziele waren Odessa, Cherson und Saporischschja im Süden der Ukraine. Damit nimmt Russland der Gegenoffensive vollends den Wind aus den Segeln. Angriff folgte auf Gegenangriff, die Front verharrt seit Monaten an Ort und Stelle.

Kriegshandlungen in der Ukraine (und auf der Krim, die 2014 von Russland annektiert wurde) von 24.2.2022 bis 16.2.2024 laut Konfliktbeobachtungsstelle ACLED nach Art der Gefechte

Fachleute sprachen spätestens ab diesem Zeitpunkt von einem Stellungs- oder Abnützungskrieg, bei dem die Ukraine die schlechteren Karten hat. Die westlichen Verbündeten wurden langsam kriegsmüde, der Nachschub an Waffenlieferungen fing an zu stocken. Die USA schafften es wegen innenpolitischer Konflikte nicht, sich auf neue Ukraine-Hilfen zu einigen.

EU gibt Perspektive

Ein Lichtblick für die Ukrainerinnen und Ukrainer folgte jedoch am 8. November, als die EU-Kommission Beitrittsgespräche empfahl. Im Dezember fiel in Brüssel die Entscheidung, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Ein tatsächlicher EU-Beitritt der Ukraine liegt noch in weiter Ferne, doch erhielt das Land eine neue Zukunftsperspektive.

Das russische Militär überzog die Ukraine auch am Ende des Jahres mit seriellen Drohnenangriffen, bei denen auch wiederholt Wohnhäuser getroffen wurden. Die Kleinstadt Awdijiwka in der Oblast Donezk wurde so vollkommen zerstört. Nach monatelangen Kämpfen fiel die Stadt Anfang des Jahres schließlich Russland zu. Inzwischen ist knapp ein Fünftel des Landes von russischen Truppen besetzt.

Konflikt mit Heeresspitze

Am Ende der gescheiterten Gegenoffensive schien die Geduld in Kiew zur Neige zu gehen, Konflikte zwischen politischer und militärischer Führung wurden augenscheinlich. Nach monatelangen Spekulationen bildete Selenskyj die Militärspitze um und ersetzte den Armeechef, Waleryj Saluschnyj, durch Olexandr Syrskyj, der bis dahin Chef der Bodentruppen war. Ob das der Ukraine in ihrem dritten Kriegsjahr den erhofften Erfolg bringen kann, wird abzuwarten sein. Der Munitionsmangel der Ukraine könnte die Pattsituation auf dem Schlachtfeld bald zugunsten Russlands beenden, so Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer.

Hinzu kommt die Ermüdung der ukrainischen Soldaten. Wegen des großen Bedarfs gibt es kaum Aussicht auf Besserung. Die Angehörigen verlangen ein Recht auf Rotation und eine Entlassung für Langzeitdienende und machen immer häufiger bei Demonstrationen ihrem Ärger Luft.

Frisch veröffentlichte Zahlen der UNO zeigen das Ausmaß der Zerstörung, die zwei Kriegsjahre brachten. Seit Beginn der russischen Invasion wurden in der Ukraine mehr als 10.200 Zivilisten getötet und mehr als 19.300 verletzt – soweit die offiziellen Zahlen. 6,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer flohen in andere europäische Staaten, 3,7 Millionen begaben sich innerhalb der Ukraine auf die Flucht.