„Wir haben überlebt. Wir wurden nicht besiegt. Und wir werden alles dafür tun, dieses Jahr zu gewinnen.“ Diese Worte richtete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 24. Februar vor einem Jahr an seine Landsleute. Botschaften wie diese sind zum täglichen Brot für Selenskyj und die Bevölkerung geworden, allabendlich gibt der Präsident online Updates zum Krieg und versucht, den Optimismus zu halten.
Die tatsächliche Lage allerdings gibt dazu wenig Anlass. Fachleute sind sich einig: Ukrainisches und russisches Militär haben sich in eine Pattstellung manövriert, doch Russland sitzt am längeren Ast. Der Kreml spielt auf Zeit, während der Nachschub für die Ukraine zunehmend langsamer ans Ziel kommt.
Schock und Trotz
Das erste Kriegsjahr war vor allem vom Schock begleitet, wie es dazu kommen konnte. Trotz der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim vor zehn Jahren hatte kaum jemand den Überfall auf das ukrainische Festland vorhergesehen. Russland scheiterte an seinen Plänen, die Ukraine im Blitzkrieg zu nehmen.
Selenskyj, der gleich zu Beginn der Kampfhandlungen hätte gefangen genommen werden sollen, wandelte sich zum Kriegsherren. Die Ukraine stellte sich als überraschend wehrhaft heraus, doch Massaker wie in Butscha, die wochenlange Schlacht um das Stahlwerk Asow-Stahl in Mariupol und die Annexionen der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk zehrten an mentalen und physischen Kräften.
Durchhalteparolen dominieren
Das zweite Kriegsjahr war entsprechend von Durchhalteparolen geprägt. Im Frühjahr des vergangenen Jahres nahmen die Invasionstruppen Bachmut ein. Früher lebten hier gut 70.000 Menschen, nach langen, blutigen Kämpfen ist die Stadt in der Oblast Donezk dem Erdboden gleich. Auch Kiew wurde im Frühjahr nächtelang beschossen, zeitgleich griff Russland verstärkt die ukrainische Infrastruktur an.
Einschneidend für das gesamte Land war der Kollaps des Kachowka-Staudamms, der den Dnipro zu einem riesigen See aufstaute. Das dazugehörende Wasserkraftwerk wurde zerstört, Unmengen Wasser strömten den Dnipro hinab und überfluteten weite Teile der Oblast Cherson.
Beide Kriegsparteien machten den jeweils anderen verantwortlich. Die Zerstörung des Damms hatte laut UNO schwerwiegende Folgen für Tausende Menschen auf beiden Seiten der Front sowie auf Tier- und Umwelt.
Ein Söldner rebelliert
Auch wenn sich das Kriegsglück für die Ukraine nicht einstellen wollte, für Aufsehen sorgte zumindest Schützenhilfe von gar unerwarteter Richtung: Im Sommer rebellierte der Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, der zuvor schon die russische Militärspitze monatelang öffentlich kritisiert hatte. Er wollte seine Wagner-Söldner bei einem „Marsch der Gerechtigkeit“ gen Moskau führen. Die Söldner nahmen auch Rostow am Don ohne Widerstand ein, wo das russische Militär sein Hauptquartier für den Krieg in der Ukraine hat.
Wenige hundert Kilometer vor Moskau aber stoppte Prigoschin die Rebellion, mit der er die Absetzung der offiziellen Militärführung erreichen wollte. Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko vermittelte daraufhin zwischen Putin und Prigoschin, der Söldnerchef floh nach Belarus ins Exil und kehrte wenig später wieder nach Russland zurück. Lange währte Prigoschins Freiheit nicht. Am 23. August starb er beim Absturz seines Flugzeugs – unter nicht geklärten Umständen.
Krieg der Abnützung
Die lang erwartete Gegenoffensive der Ukraine hatte schon im Frühsommer begonnen, doch ist sie nie richtig in die Spur gekommen. Im Herbst unternahmen die russischen Streitkräfte die stärksten Angriffe seit Jahresbeginn, Ziele waren Odessa, Cherson und Saporischschja im Süden der Ukraine. Damit nimmt Russland der Gegenoffensive vollends den Wind aus den Segeln. Angriff folgte auf Gegenangriff, die Front verharrt seit Monaten an Ort und Stelle.
Fachleute sprachen spätestens ab diesem Zeitpunkt von einem Stellungs- oder Abnützungskrieg, bei dem die Ukraine die schlechteren Karten hat. Die westlichen Verbündeten wurden langsam kriegsmüde, der Nachschub an Waffenlieferungen fing an zu stocken. Die USA schafften es wegen innenpolitischer Konflikte nicht, sich auf neue Ukraine-Hilfen zu einigen.
EU gibt Perspektive
Ein Lichtblick für die Ukrainerinnen und Ukrainer folgte jedoch am 8. November, als die EU-Kommission Beitrittsgespräche empfahl. Im Dezember fiel in Brüssel die Entscheidung, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Ein tatsächlicher EU-Beitritt der Ukraine liegt noch in weiter Ferne, doch erhielt das Land eine neue Zukunftsperspektive.
Das russische Militär überzog die Ukraine auch am Ende des Jahres mit seriellen Drohnenangriffen, bei denen auch wiederholt Wohnhäuser getroffen wurden. Die Kleinstadt Awdijiwka in der Oblast Donezk wurde so vollkommen zerstört. Nach monatelangen Kämpfen fiel die Stadt Anfang des Jahres schließlich Russland zu. Inzwischen ist knapp ein Fünftel des Landes von russischen Truppen besetzt.
Konflikt mit Heeresspitze
Am Ende der gescheiterten Gegenoffensive schien die Geduld in Kiew zur Neige zu gehen, Konflikte zwischen politischer und militärischer Führung wurden augenscheinlich. Nach monatelangen Spekulationen bildete Selenskyj die Militärspitze um und ersetzte den Armeechef, Waleryj Saluschnyj, durch Olexandr Syrskyj, der bis dahin Chef der Bodentruppen war. Ob das der Ukraine in ihrem dritten Kriegsjahr den erhofften Erfolg bringen kann, wird abzuwarten sein. Der Munitionsmangel der Ukraine könnte die Pattsituation auf dem Schlachtfeld bald zugunsten Russlands beenden, so Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer.
Hinzu kommt die Ermüdung der ukrainischen Soldaten. Wegen des großen Bedarfs gibt es kaum Aussicht auf Besserung. Die Angehörigen verlangen ein Recht auf Rotation und eine Entlassung für Langzeitdienende und machen immer häufiger bei Demonstrationen ihrem Ärger Luft.
Frisch veröffentlichte Zahlen der UNO zeigen das Ausmaß der Zerstörung, die zwei Kriegsjahre brachten. Seit Beginn der russischen Invasion wurden in der Ukraine mehr als 10.200 Zivilisten getötet und mehr als 19.300 verletzt – soweit die offiziellen Zahlen. 6,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer flohen in andere europäische Staaten, 3,7 Millionen begaben sich innerhalb der Ukraine auf die Flucht.