Polizei und Demonstranten in Kiew, 2014
Reuters
Maidan 2014

Wo Putins Krieg gegen die Ukraine begann

Am Wochenende wurde des zweiten Jahrestages des russischen Überfalls auf die Ukraine gedacht. Tatsächlich aber begann der Krieg schon vor zehn Jahren: Im Februar 2014 ließ die Regierung des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch die Proteste auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, brutal niederschlagen. Nur Tage später schickte Russland Soldaten auf ukrainisches Territorium und annektierte die Krim.

Schon seit Monaten hatten im Februar 2014 Zehntausende Menschen auf dem Maidan gegen ihre Regierung und für eine Annäherung an die Europäische Union demonstriert, Protestlager errichtet. Janukowitsch hatte sich zuvor dem Druck des Kreml gebeugt und sich geweigert, ein langwierig ausgehandeltes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterschreiben. Als Janukowitsch den Protest mit Gewalt niederschlagen lassen wollte, schwoll der Unmut an. Forderungen nach seinem Rücktritt wurden immer lauter.

Mit den Wochen wuchs die Brutalität der Sicherheitskräfte, auch die Protestierenden radikalisierten sich. Sie bewaffneten sich mit Baseballschlägern, Eisenstangen, teils auch Schusswaffen. Am 20. Februar 2014 gipfelte die Gewalt in einem Blutbad: Scharfschützen der Sicherheitskräfte eröffneten rund um den Maidan das Feuer. Etwa 100 Menschen wurden getötet, viele weitere verletzt.

Anti-Regierungs-Demonstranten in Kiew, 2014
Reuters/Yannis Behrakis
Der Maidan im Zentrum Kiews war Ende Februar 2014 nur noch ein Trümmerfeld

Blutbad besiegelt Janukowitschs Herrschaft

Noch am selben Abend versuchte Janukowitsch die Lage unter Kontrolle zu bringen, indem er bei Gesprächen mit europäischen Außenministern einen Deal aushandelte: Er sollte vorerst im Amt bleiben, aber Konzessionen machen und später freiwillig zurücktreten.

Doch das war nicht mehr machbar, der Staatschef hatte die Kontrolle über seinen Sicherheitsapparat verloren. Janukowitsch erklärte seine vom ukrainischen Parlament per Mehrheitsbeschluss vollzogene Absetzung für rechtswidrig, verließ in der Nacht auf den 22. Februar Kiew und floh mit russischer Hilfe nach Moskau.

Die russische Staatsführung bezeichnete die Vorfälle auf dem Maidan als einen von den USA und der EU geförderten Putsch militanter Ultranationalisten. „(Präsident Wladimir, Anm.) Putin sah im Maidan sicher gar nicht so sehr ein ukrainisches Event, sondern einen hybriden Angriff des Westens gegen Russland und gegen ihn, gegen sich selbst“, sagte Christian Esch, damals Korrespondent der „Berliner Zeitung“ in Moskau, heute „Spiegel“-Korrespondent für Osteuropa.

„Grüne Männchen“ auf der Krim

Putins Antwort folgte prompt: Ende Februar 2014 besetzten bewaffnete und maskierte Männer in Uniformen ohne Hoheitszeichen Parlament und Gebietsverwaltung auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Putin gab später zu, dass es sich bei den „grünen Männchen“, über die der Westen anfangs noch rätselte, um russische Soldaten handelte. Im März ließ Russland auf der Krim ein international nicht anerkanntes Referendum über den Anschluss an Russland abhalten und gliederte sie am 21. März offiziell als Landesteil ein.

Aufeinendertreffen zweier Demeronstrationszüge auf der Krim 2014
Reuters/Baz Ratner
Vor dem Parlament der Krim in Simferopol treffen am 26. Februar 2014 Russlands Fürsprecher und Gegner aufeinander

„Anti-Terror-Operation“ im Donbas

Ebenfalls im März 2014 intervenierten in den ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk, die gemeinsam als Donbas firmieren, russische paramilitärische Gruppen und riefen zwei „Volksrepubliken“ aus. Im Mai sagte der frisch gewählte ukrainische Präsident Petro Poroschenko, dass „Krieg“ in der Ostukraine herrsche, und verstärkte die militärische „Anti-Terror-Operation“.

Doch die ukrainische Armee stieß auf erbitterte Gegenwehr der separatistischen Milizen. Wer an deren Seite kämpfte, war zu dem Zeitpunkt gar nicht klar: Nach unterschiedlichen Berichten handelte es sich um desertierte Soldaten der ukrainischen Armee, ehemalige Spezialkräfte der Sonderpolizei Berkut und des Geheimdienstes SBU ebenso wie um Söldner aus Russland, darunter Tschetschenen. Im Sommer schickte Russland auch eigene Truppen in den Donbas.

„Aber im Vergleich zur Krim war Russlands Einwirkung im Donbas(s) weniger direkt. Es gab kein festes Drehbuch, sondern Raum und Zeit für Improvisation, und es gab auch kein festes Ziel. Es ging darum, die Unruhe in der Ostukraine zu radikalisieren und in Gewalt zu verwandeln. Dann konnte man weiterschauen“, schrieb Journalist Esch. Das Kalkül ging auf, UNO-Zahlen zufolge starben allein zwischen 2014 und 2018 fast 12.500 Menschen in der Region.

Russlands Präsident Putin blickt auf Kriegsschiffe auf der Krim
APA/AFP/Ria-Novosti/Alexey Druzhinin
Putin begutachtet im Mai 2014 seine Kriegsschiffe vor der Krim

Zahnlose Protokolle von Minsk

Nach dem schnellen Vorstoß der Separatisten im Donbas wurde nach Lösungen auf dem Verhandlungstisch gesucht. Im September einigten sich die Ukraine, Russland, die Separatisten und die OSZE auf das Protokoll von Minsk (Minsk I). Es sah nicht nur einen Waffenstillstand vor, sondern legte auch weitreichende Maßnahmen für eine friedliche Lösung fest.

Der Waffenstillstand wurde zwar nicht vollständig umgesetzt, die Kampfhandlungen ließen vorübergehend aber deutlich nach – bis im Jänner 2015 die Separatisten begannen, den Donezker Flughafen zu erobern und es auch an anderen Stellen zu verstärkten Kämpfen kam. Am 12. Februar 2015 kam auf Initiative Deutschlands und Frankreichs ein neues Waffenstillstandsabkommen zustande: Minsk II. Auch dieses Abkommen bestand bald nur noch auf dem Papier.

Grafik zur Entwicklung des Ukrainekriegs
Grafik: APA/ORF; Quelle: Le Monde/ISW

Schaute der Westen zu lange weg?

Der Krieg im Donbas blieb jahrelang eingefroren, bis zum 24. Februar 2022, als Putin der gesamten Ukraine den Krieg erklärte. Ob der Westen über Jahre hinweg zu blauäugig war und die Gefahr, die vom Kreml-Chef ausging, unterschätzte, lässt sich heute schwer beantworten. Nicht einmal Osteuropa-Experte und Maidan-Augenzeuge Esch ist sich sicher, „ob die Rechnung ‚Minsk statt Krieg‘ aufgegangen wäre“.

Im „Spiegel“ schrieb er: „Nicht nur die Ukraine hat sich verändert, auch Putin. Er hat sich über die Jahre radikalisiert. 2021 schrieb er einen langen Essay über die Ukraine, in dem nicht mehr der Maidan das Hauptproblem war, sondern jahrhundertealte Kränkungen. Der Text wurde sofort zur Pflichtlektüre in der russischen Armee erklärt. Für Putin, so scheint mir heute, war die Existenz der Ukraine selbst das Problem geworden. Den nötigen Vorwand für einen Angriff hätte er sowieso gefunden.“