Trümmer und zerstörte Gebäude in Gaza City
APA/AFP/Mahmud Hams
Über 30.000 Tote

UNO prangert „Gemetzel“ im Gazastreifen an

Als „Gemetzel“ hat der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, am Donnerstag die anhaltenden Angriffe im Gazastreifen bezeichnet. Auf beiden Seiten gebe es Kriegsverbrechen und Verstöße gegen die Menschenrechte. Die Zahl der im Gazastreifen getöteten Menschen stieg seit Kriegsbeginn nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde auf über 30.000. Fast 70.500 Menschen seien verwundet worden.

Türk zitierte die Opferzahlen vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf und sagte, Zehntausende würden zudem vermisst und seien vermutlich unter den Trümmern ihrer Häuser begraben. Die Hamas-Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Die Vereinten Nationen und andere Beobachter weisen aber darauf hin, dass sich die Zahlen der Behörde in der Vergangenheit als insgesamt glaubwürdig herausgestellt hätten. Die Angaben der Hamas-Gesundheitsbehörde unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und bewaffneten Mitgliedern von Terrororganisationen. Israels Armee teilte auf Anfrage mit, rund „10.000 Terroristen“ getötet zu haben.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte am Donnerstag während einer Anhörung im US-Kongress, seit Beginn der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen im Oktober seien mehr als 25.000 palästinensische Frauen und Kinder getötet worden.

„Massaker“ bei Hilfslieferung

Am Donnerstag kam es laut Hamas neuerlich zu einem tödlichen Zwischenfall: Bei einem israelischen Militäreinsatz in Gaza-Stadt seien mindestens 50 Menschen getötet worden, die auf Lastwagen mit humanitärer Hilfe zustürzten. Ein Sprecher der Gesundheitsbehörde bezifferte die Anzahl der Toten gar auf über 100 und sprach von einem Massaker.

Ein Zeuge sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass sich die Gewalt an einem Kreisverkehr im Westen der Stadt ereignet habe, als Tausende auf die Lastwagen zugestürmt seien. „Die Lastwagen voller Hilfsgüter kamen einigen Armeepanzern, die sich in der Nähe befanden, zu nahe, und die Menge, Tausende Menschen, stürmte einfach auf die Lastwagen zu“, sagte der Zeuge.

Die Armee teilte nach dem Vorfall mit, zahlreiche Menschen hätten sich um die Lastwagen gedrängt, um diese zu plündern – dabei soll es zu dem Chaos und Gedränge gekommen sein. Dutzende wurden nach Armeeangaben dabei durch Rempeleien und Getrampel getötet und verletzt. Es seien zudem Menschen von den Lastwagen überfahren worden. Das Militär veröffentlichte Luftaufnahmen, die das bestätigen sollten.

Bericht: Zehn Menschen von Schüssen getroffen

Am Nachmittag berichtete die „Times of Israel“ von Ergebnissen einer ersten Untersuchung des Vorfalls durch die israelische Amrmee. Es seien etwa zehn Menschen durch von israelischen Soldaten abgegebene Schüsse getroffen worden.

Mehrere israelische Medien meldeten unter Berufung auf Armeekreise, ein Teil der Menge habe sich aus nicht genannter Ursache den Soldaten genähert, die die Einfuhr der Lkws koordinierten, und diese damit gefährdet. Das Militär habe deshalb das Feuer auf die Gruppe eröffnet.

Kairo gibt Israel die Schuld

Die ägyptische Regierung gab Israel die Schuld und übte scharfe Kritik am Militär. Soldaten hätten das Feuer auf die wartende Menge eröffnet. Man verurteile „den unmenschlichen israelischen Angriff auf eine Menge von wehrlosen palästinensischen Zivilisten, die die Ankunft von Hilfslastern erwarteten“, hieß es in einer Mitteilung des ägyptischen Außenministeriums am Donnerstag.

Volker Turk
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Türk richtet eindringliche Appelle an beide Seiten

Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Türk, verurteilte in seiner Rede erneut den Auslöser der israelischen Militäroffensive: die Massaker, die am 7. Oktober von palästinensischen Extremisten in Israel verübt wurden, und das Verschleppen von Zivilisten als Geiseln in den Gazastreifen. Er verurteilte aber ebenfalls „die Brutalität der israelischen Reaktion“. „Der Krieg in Gaza muss beendet werden“, forderte Türk.

„Zeit für Frieden, Aufklärung und Rechenschaftspflicht“

„Alle Parteien haben eindeutige Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht begangen, darunter auch Kriegsverbrechen und möglicherweise andere Verbrechen nach internationalem Recht. Es ist Zeit – längst überfällig – für Frieden, Aufklärung und Rechenschaftspflicht“, hielt der aus Österreich stammende Jurist fest.

Israel habe im Gazastreifen Tausende Tonnen Munition in dicht besiedelten Wohnvierteln eingesetzt. Darunter seien Waffen, die großräumig Schaden anrichteten, sagte Türk. Solche Waffen produzierten eine Druckwelle, die menschliche Organe zerreißen und schwere Verbrennungen verursachen könne.

„Wahllose oder unverhältnismäßige“ Angriffe

„In den vergangenen fünf Kriegsmonaten hat das Büro zahlreiche Vorfälle registriert, die auf Kriegsverbrechen der israelischen Streitkräfte hindeuten, sowie Hinweise darauf, dass die israelischen Streitkräfte wahllos oder unverhältnismäßig gezielt haben und damit gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen“, so Türk. Das Blockieren von Hilfslieferungen und damit der Einsatz von Hunger als Kriegsmethode könnten, wenn sie bewusst durchgeführt werden, womöglich Kriegsverbrechen sein.

Die israelische Botschafterin Meirav Eilon Schahar verteidigte das Vorgehen Israels. Ihr Land sei im Krieg gegen eine Terrororganisation. Das Schlachtfeld in Gaza habe die Hamas geschaffen. Weil sich die Kämpfer hinter Zivilisten und Zivilistinnen versteckten, habe Israel keine andere Wahl, als dort anzugreifen. Israel setze alles daran, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, etwa durch Warnungen vor Luftschlägen an die Bevölkerung.

Der palästinensische Botschafter Ibrahim Churaisch hielt entgegen, Kinder und Frauen, die verzweifelt anstünden, um etwas zu essen zu bekommen, würden bombardiert. Er warf Israel einen Genozid vor. Er verurteilte die Anschläge vom 7. Oktober. Die Zeitrechnung habe aber nicht an diesem Tag begonnen, Israel unterdrücke die Palästinenser seit Jahrzehnten.

Schallenberg besorgt über mögliche Flüchtlingswellen

Zum Abschluss seiner Nahost-Reise zeigte sich Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) unterdessen besorgt über mögliche Flüchtlingswellen aus dem Nahen Osten. Er sehe dieses Problem „absolut“, sagte Schallenberg in Beirut. Ein Vertreter des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) in Jordanien hatte zuvor im Gespräch mit Journalisten darauf verwiesen, dass sich infolge der Kürzung von Hilfsgeldern mehr Flüchtlinge auf den Weg machen.

„Das ist auch einer der Gründe unseres Interesses in der Region. Dass wir auch Geld zur Verfügung stellen, wie gestern durch die österreichische Bundesregierung zehn Millionen Euro zusätzliche Finanzhilfen für die Zivilbevölkerung in Gaza, hat etwas damit zu tun, dass wir ein unmittelbares Interesse haben an Stabilisierung, an Sicherheit, möglichst am Frieden in der Region“, betonte Schallenberg.

Im Fall Syriens habe man nämlich erlebt, „was geschehen kann, wenn hier eine Hangabrutschung stattfindet und sich plötzlich Millionen Menschen auf den Weg Richtung Europa machen. Das gilt es zu vermeiden.“