Verwundete in einem Krankenhaus in Gaza
AP
Chaos und Schüsse

Viele Tote bei Ansturm auf Hilfsgüter in Gaza

Bei Chaos und Schüssen rund um einen Hilfskonvoi in Gaza sind am Donnerstag Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Zum Hergang gibt es unterschiedliche Angaben, die unabhängig nicht überprüfbar sind. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde sprach von einem „Massaker“ durch einen israelischen Militäreinsatz, bei dem über 100 Menschen getötet und 760 verletzt worden seien. Israel hingegen sprach von einer Drängelei um den Lkw, bei dem Dutzende durch Rempeleien und Getrampel getötet worden seien.

Einem israelischen Militärsprecher zufolge gab es zwei Vorfälle: Bei dem ersten hätten sich zahlreiche Menschen um die Lastwagen gedrängt, um diese zu plündern – dabei soll es zu dem Chaos und Gedränge gekommen sein. Zudem seien Menschen von den Lkws überfahren worden. Dann habe sich eine Gruppe trotz Warnschüssen Soldaten genähert. Diese hätten „auf diejenigen gefeuert, die eine Bedrohung darstellten“.

Die Hamas warf der israelischen Armee hingegen vor, die Menge in der Stadt Gaza gezielt angegriffen und das Feuer auf die wartende Menge eröffnet zu haben. Israel wies die Angaben zurück, ohne eine konkrete Opferzahl zu nennen. Sowohl die israelische als auch die palästinensische Darstellung lässt sich unabhängig nicht überprüfen. Die israelische Armee kündigte eine Prüfung des Vorfalls an, auch wurden Luftaufnahmen des Vorfalls veröffentlicht.

Menschen warten in Gaza auf Hilfsgüter
APA/AFP/Aline Manoukian
Das Militär veröffentlichte Luftaufnahmen, die die israelische Darstellung des Vorfalls bestätigen sollen

Bericht: Zehn Tote nach israelischen Schüssen

Am Nachmittag berichtete die Times of Israel dann von ersten Ergebnissen: Es seien etwa zehn Menschen durch von israelischen Soldaten abgegebene Schüsse getroffen worden. Von Rettungskräften hieß es, sie seien mit der Zahl der Verletzten und der Schwere der Wunden überfordert. Dutzende Opfer wurden ins Al-Schifa-Krankenhaus gebracht, das als Folge israelischer Angriffe nur teilweise in Betrieb war.

USA: „Tragischer und alarmierender Vorfall“

Seit Wochen hatte es im Gaza-Krieg keinen Vorfall mit derartig vielen zivilen Opfern gegeben. US-Präsident Joe Biden telefonierte nach Angaben des Weißen Hauses mit Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi und dem katarischen Emir Tamim bin Hamad Al Thani. Alle Beteiligten hätten den Verlust von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung bedauert, so das Weiße Haus. Es handle sich um einen „tragischen und alarmierenden Vorfall“.

Man sei sich einig, dass dieser Vorfall die Dringlichkeit unterstreiche, die Verhandlungen so bald wie möglich abzuschließen und die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen auszuweiten. Weiter hieß es, dass sich Biden mit dem ägyptischen Präsidenten und dem Emir von Katar mit Blick auf eine Waffenruhe darüber ausgetauscht habe, „wie eine solche längere Phase der Ruhe zu etwas Dauerhaftem ausgebaut werden könnte“.

Guterres verurteilt tödliche „Akte der Gewalt“

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres verurteilte den Vorfall. „Wir wissen nicht genau, was geschehen ist“, sagte sein Sprecher Stephane Dujarric am Donnerstag in New York. „Aber ob diese Menschen nun durch israelische Schüsse getötet wurden, ob sie von der Menge erdrückt oder von Lastwagen umgefahren wurden, es handelt sich um Akte der Gewalt, die in gewisser Weise mit diesem Konflikt in Verbindung stehen.“ Noch am Donnerstag tritt der UNO-Sicherheitsrat zu dem Fall zusammen.

Die Regierung in Kairo warf Israel vor, das Feuer auf die wartende Menge eröffnet zu haben. Ägypten verurteile aufs Schärfste „den unmenschlichen israelischen Angriff auf eine Menge von wehrlosen palästinensischen Zivilisten, die die Ankunft von Hilfslastern erwarteten“, hieß es in einer Mitteilung des ägyptischen Außenministeriums am Donnerstag. Auch Saudi-Arabien und Jordanien kritisierten Israel für den Vorfall.

UNO prangert „Gemetzel“ an

Als „Gemetzel“ bezeichnete der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, am Donnerstag die anhaltenden Angriffe im Gazastreifen. Auf beiden Seiten gebe es Kriegsverbrechen und Verstöße gegen die Menschenrechte. Die Zahl der im Gazastreifen getöteten Menschen stieg seit Kriegsbeginn nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde auf über 30.000. Fast 70.500 Menschen seien verwundet worden.

USA: 25.000 Frauen und Kinder seit Oktober getötet

Die Hamas-Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen, doch auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nannte am Donnerstag Zahlen: Es seien mehr als 25.000 palästinensische Frauen und Kinder getötet worden. Türk zitierte die von der Hamas veröffentlichten Opferzahlen vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf und sagte, Zehntausende würden zudem vermisst und seien vermutlich unter den Trümmern ihrer Häuser begraben.

Die Vereinten Nationen und andere Beobachter weisen aber darauf hin, dass sich die Zahlen der Behörde in der Vergangenheit als insgesamt glaubwürdig herausgestellt hätten. Die Angaben der Hamas-Gesundheitsbehörde unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und bewaffneten Mitgliedern von Terrororganisationen. Israels Armee teilte auf Anfrage mit, rund „10.000 Terroristen“ getötet zu haben.

„Krieg muss beendet werden“

Türk verurteilte in seiner Rede erneut den Auslöser der israelischen Militäroffensive: die Massaker, die am 7. Oktober von palästinensischen Extremisten in Israel verübt wurden, und das Verschleppen von Zivilisten als Geiseln in den Gazastreifen. Er verurteilte aber ebenfalls „die Brutalität der israelischen Reaktion“. „Der Krieg in Gaza muss beendet werden“, forderte Türk.

Volker Turk
APA/AFP/Fabrice Coffrini
Türk richtet eindringliche Appelle an beide Seiten

„Zeit für Frieden, Aufklärung und Rechenschaftspflicht“

„Alle Parteien haben eindeutige Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht begangen, darunter auch Kriegsverbrechen und möglicherweise andere Verbrechen nach internationalem Recht. Es ist Zeit – längst überfällig – für Frieden, Aufklärung und Rechenschaftspflicht“, hielt der aus Österreich stammende Jurist fest.

Israel habe im Gazastreifen Tausende Tonnen Munition in dicht besiedelten Wohnvierteln eingesetzt. Darunter seien Waffen, die großräumig Schaden anrichteten, sagte Türk. Solche Waffen produzierten eine Druckwelle, die menschliche Organe zerreißen und schwere Verbrennungen verursachen könne.

„Wahllose oder unverhältnismäßige“ Angriffe

„In den vergangenen fünf Kriegsmonaten hat das Büro zahlreiche Vorfälle registriert, die auf Kriegsverbrechen der israelischen Streitkräfte hindeuten, sowie Hinweise darauf, dass die israelischen Streitkräfte wahllos oder unverhältnismäßig gezielt haben und damit gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen“, so Türk. Das Blockieren von Hilfslieferungen und damit der Einsatz von Hunger als Kriegsmethode könnten, wenn sie bewusst durchgeführt werden, womöglich Kriegsverbrechen sein.

Die israelische Botschafterin Meirav Eilon Schahar verteidigte das Vorgehen Israels. Ihr Land sei im Krieg gegen eine Terrororganisation. Das Schlachtfeld in Gaza habe die Hamas geschaffen. Weil sich die Kämpfer hinter Zivilisten und Zivilistinnen versteckten, habe Israel keine andere Wahl, als dort anzugreifen. Israel setze alles daran, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, etwa durch Warnungen vor Luftschlägen an die Bevölkerung.

Der palästinensische Botschafter Ibrahim Churaisch hielt entgegen, Kinder und Frauen, die verzweifelt anstünden, um etwas zu essen zu bekommen, würden bombardiert. Er warf Israel einen Genozid vor. Er verurteilte die Anschläge vom 7. Oktober. Die Zeitrechnung habe aber nicht an diesem Tag begonnen, Israel unterdrücke die Palästinenser seit Jahrzehnten.