Militärische Luftaufnahme von Menschenmenge, die auf Hilfslieferungen wartet
APA/AFP/Israeli Army/Aline Manoukian
Tödlicher Vorfall in Gaza

USA wollen „auf Antworten drängen“

Nach der Katastrophe mit Dutzenden Toten bei einem Hilfsgüterkonvoi in Gaza verlangt die US-Regierung Antworten – dazu stehe man mit der israelischen Regierung in Kontakt. Es sei das Verständnis der USA, dass eine Untersuchung im Gange sei, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, am Donnerstag. „Wir werden diese Untersuchung genau verfolgen und auf Antworten drängen.“

Zum Hergang des tödlichen Vorfalls gibt es unterschiedliche Darstellungen, die unabhängig nicht überprüfbar sind. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde sprach von einem „Massaker“ durch einen israelischen Militäreinsatz, bei dem über 100 Menschen getötet und 760 verletzt worden seien. Die Menge sei gezielt angegriffen und das Feuer auf die wartende Menge eröffnet worden.

Anders die israelische Darstellung. Einem israelischen Militärsprecher zufolge gab es zwei Vorfälle: Bei dem ersten hätten sich zahlreiche Menschen um die Lastwagen gedrängt, um diese zu plündern – dabei soll es zu einem Gedränge gekommen sein. Dutzende sollen durch Rempeleien und Getrampel getötet worden seien. Zudem seien Menschen von den Lkws überfahren worden. Dann habe sich eine Gruppe trotz Warnschüssen Soldaten genähert. Diese hätten „auf diejenigen gefeuert, die eine Bedrohung darstellten“.

Bericht: Zehn Tote nach israelischen Schüssen

Am Nachmittag berichtete die Times of Israel dann von ersten Ergebnissen der von der Armee eingeleiteten Untersuchung: Es seien etwa zehn Menschen durch von israelischen Soldaten abgegebene Schüsse getroffen worden. Von Rettungskräften hieß es, sie seien mit der Zahl der Verletzten und der Schwere der Wunden überfordert. Dutzende Opfer wurden ins Al-Schifa-Krankenhaus gebracht, das als Folge israelischer Angriffe nur teilweise in Betrieb war.

Verwundete in einem Krankenhaus in Gaza
AP
Verletzte im Al-Schifa-Krankenhaus

Sprecher Hagari: „Es gab keinen Angriff auf den Konvoi“

Am späten Abend sagte Israels Armeesprecher Daniel Hagari, israelische Soldaten hätten keine Menschen gezielt angegriffen. Vielmehr sei es bei der Ankunft der Lastwagen zu einem chaotischen Gedränge gekommen, das die Soldaten mit Warnschüssen auflösen wollten, sagte Hagari bei einer Pressekonferenz. „Es gab keinen Angriff des israelischen Militärs auf den Hilfskonvoi“, sagte Hagari. „Unser Krieg richtet sich gegen die Hamas, nicht gegen die Menschen in Gaza.“

Ein anderer Armeesprecher, Peter Lerner, sagte gegenüber CNN, als sich eine Gruppe von bewaffneten Palästinensern nach den Warnschüssen weiter Soldaten genähert hätten, hätten die Armeeangehörigen auch weitere Schüsse abgegeben. Einige Menschen seien bei diesem Vorfall verletzt worden, so Lerner. Israelischen Medien zufolge sollen die Soldaten auf die Beine gezielt haben.

USA: Keine gesicherten Erkenntnisse

Von den USA hieß es, man habe keine gesicherten Erkenntnisse über die Geschehnisse, sagte Miller. Das Luftbildmaterial zeige, dass die Menschen im Gazastreifen unglaublich verzweifelt seien. „Heute sind zu viele Palästinenser gestorben, und das gilt für zu viele Tage seit dem 7. Oktober“, so Miller. Der Vorfall zeige, warum eine schnelle Einigung über eine Waffenruhe und die Freilassung der Geiseln in den Händen der Hamas notwendig sei.

Er sagte, dass diese „Tragödie“ die Verhandlungen komplizierter machen könne. „Aber wir hoffen, dass das nicht der Fall sein wird, und wir werden uns sehr dafür einsetzen, eine Einigung zu erzielen.“ Die Menschen im Gazastreifen brauchten mehr Nahrung, mehr Wasser, Medikamente und andere humanitäre Güter. „Und sie brauchen das jetzt.“ Miller betonte gleichzeitig: „Wenn die Hamas die Waffen niederlegen würde, könnte das alles heute vorbei sein.“

Biden sprach mit Sisi und Tamim

Seit Wochen hatte es im Gaza-Krieg keinen Vorfall mit derartig vielen zivilen Opfern gegeben. US-Präsident Joe Biden telefonierte nach Angaben des Weißen Hauses mit Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi und dem katarischen Emir Tamim bin Hamad Al Thani. Alle Beteiligten hätten den Verlust von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung bedauert, so das Weiße Haus. Es handle sich um einen „tragischen und alarmierenden Vorfall“.

Man sei sich einig, dass dieser Vorfall die Dringlichkeit unterstreiche, die Verhandlungen so bald wie möglich abzuschließen und die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen auszuweiten.

Guterres verurteilt tödliche „Akte der Gewalt“

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres verurteilte den Vorfall. „Wir wissen nicht genau, was geschehen ist“, sagte sein Sprecher Stephane Dujarric am Donnerstag in New York. „Aber ob diese Menschen nun durch israelische Schüsse getötet wurden, ob sie von der Menge erdrückt oder von Lastwagen umgefahren wurden, es handelt sich um Akte der Gewalt, die in gewisser Weise mit diesem Konflikt in Verbindung stehen.“ Der UNO-Sicherheitsrat konnte sich auf keine gemeinsame Stellungnahme verständigen.

Die Regierung in Kairo warf Israel vor, das Feuer auf die wartende Menge eröffnet zu haben. Ägypten verurteile aufs Schärfste „den unmenschlichen israelischen Angriff auf eine Menge von wehrlosen palästinensischen Zivilisten, die die Ankunft von Hilfslastern erwarteten“, hieß es in einer Mitteilung des ägyptischen Außenministeriums am Donnerstag. Auch Saudi-Arabien und Jordanien kritisierten Israel für den Vorfall.

Entsetzt reagierte EU-Außenbeauftragter Josep Borrell: „Diese Todesfälle sind absolut inakzeptabel.“ Frankreichs Präsident Emmanuel Macron äußerte „große Empörung“ über die Bilder aus Gaza. Er verlangte „Wahrheit, Gerechtigkeit und Respekt für das Völkerrecht“. Auch China verurteilte „diesen Vorfall aufs Schärfste“.

UNO prangert „Gemetzel“ an

Als „Gemetzel“ bezeichnete der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, am Donnerstag die anhaltenden Angriffe im Gazastreifen. Auf beiden Seiten gebe es Kriegsverbrechen und Verstöße gegen die Menschenrechte. Die Zahl der im Gazastreifen getöteten Menschen stieg seit Kriegsbeginn nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde auf über 30.000. Fast 70.500 Menschen seien verwundet worden.

USA: 25.000 Frauen und Kinder seit Oktober getötet

Die Hamas-Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen, doch auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nannte am Donnerstag Zahlen: Es seien mehr als 25.000 palästinensische Frauen und Kinder getötet worden. Türk zitierte die von der Hamas veröffentlichten Opferzahlen vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf und sagte, Zehntausende würden zudem vermisst und seien vermutlich unter den Trümmern ihrer Häuser begraben.

Die Vereinten Nationen und andere Beobachter weisen aber darauf hin, dass sich die Zahlen der Behörde in der Vergangenheit als insgesamt glaubwürdig herausgestellt hätten. Die Angaben der Hamas-Gesundheitsbehörde unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und bewaffneten Mitgliedern von Terrororganisationen. Israels Armee teilte auf Anfrage mit, rund „10.000 Terroristen“ getötet zu haben.