Der französische Präsident Emmanuel Macron
APA/AFP/Ludovic Marin
Macron

Zivilisten in Gaza „ins Visier genommen“

Nach dem für Dutzende Zivilisten tödlichen Vorfall in Gaza am Donnerstag wächst der Druck auf Israels Führung von allen Seiten. Die Berichte und Bilder, die eine Massenpanik um einen Hilfskonvoi zeigten, bei der offenbar Schüsse fielen, lösten Empörung auf der ganzen Welt aus und sorgten für Rufe nach Aufklärung. Besonders scharfe Kritik kam von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: Das israelische Militär habe Zivilisten „ins Visier genommen“.

Noch ist nicht geklärt, was genau am Donnerstag in Gaza-Stadt geschah. Nach Angaben der israelischen Armee war es zu einem „Gedränge“ gekommen, als sich Tausende Menschen um einen Konvoi von 30 Lkws mit Hilfsgütern versammelten. Dabei habe es Dutzende Tote und Verletzte gegeben, von denen einige von Lastwagen überfahren worden seien.

Ein Vertreter der israelischen Armee räumte eine „begrenzte“ Zahl von Schüssen durch israelische Soldaten ein, die sich „bedroht“ gefühlt hätten. Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari sagte: „Es gab keinen Angriff des israelischen Militärs auf den Hilfskonvoi.“ Fest steht, dass viele Palästinenser starben. Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium sprach von über 100 Toten und mehreren hundert Verletzten.

Macron: „Verlange Wahrheit“

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) machte am Freitag die katastrophale Versorgungslage verantwortlich. Die Menschen seien so verzweifelt auf der Suche nach Nahrung, dass sie ihr Leben riskierten, sagte WHO-Sprecher Christian Lindmeier.

Macron forderte in der Nacht auf Freitag einen sofortigen Waffenstillstand. Es gebe „große Empörung über die Bilder aus Gaza, wo Zivilisten von israelischen Soldaten ins Visier genommen wurden“. Macron sagte auf X (Twitter), er „verurteile diese Schüsse scharf und verlange Wahrheit, Gerechtigkeit und Respekt für das Völkerrecht“. „Die Situation in Gaza ist dramatisch. Alle Zivilbevölkerungen müssen geschützt werden.“

„Werden Erklärungen verlangen“

In einer Mitteilung des französischen Außenministeriums hieß es, Frankreich erwarte, dass das schwerwiegende Vorkommnis vollständig aufgeklärt werde. „In jedem Fall liegt es in der Verantwortung Israels, sich an die Regeln des Völkerrechts zu halten und die Verteilung humanitärer Hilfe an die Zivilbevölkerung zu schützen.“

Reaktionen auf tödlichen Vorfall in Gaza

Nach der Katastrophe mit Dutzenden Toten bei einem Hilfsgüterkonvoi in Gaza ist es zu internationalen Reaktionen gekommen. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres drängt erneut auf einen Waffenstillstand, der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell spricht von einem „Blutbad“.

„Wir werden Erklärungen verlangen, und es muss eine unabhängige Untersuchung geben, um festzustellen, was passiert ist“, so auch der französische Außenminister Stephane Sejourne. Frankreich müsse offen ansprechen, wenn „in Gaza Gräueltaten geschehen“. Auch die USA drängten auf detaillierte Informationen, auch aus Washington kam herbe Kritik. US-Präsident Joe Biden äußerte die Befürchtung, dass der Vorfall die Verhandlungen über eine neue Feuerpause im Gazastreifen erschweren werde.

Borrell ohne direkte Schuldzuweisung

In einer Rede auf St. Vincent und den Grenadinen sagte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres, er sei schockiert über die jüngste Episode in dem Krieg. „Ich bin der festen Überzeugung, dass wir einen humanitären Waffenstillstand und die bedingungslose und sofortige Freilassung der Geiseln brauchen und dass wir einen Sicherheitsrat haben sollten, der in der Lage ist, diese Ziele zu erreichen.“

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von einem „Blutbad unter Zivilisten in Gaza, die verzweifelt humanitäre Hilfe brauchen“. Menschen Lebensmittelhilfen vorzuenthalten sei „eine schwere Verletzung“ des humanitären Völkerrechts, schrieb Borrell auf X. Im Gegensatz zu Macron nahm Borrell keine ausdrückliche Schuldzuweisung vor.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schrieb: „Die Bilder aus dem Gazastreifen beunruhigen mich zutiefst.“ Humanitäre Hilfe sei eine Lebensader für die Bedürftigen, und der Zugang zu ihr müsse gewährleistet sein. „Wir stehen an der Seite der Zivilbevölkerung und drängen auf ihren Schutz im Einklang mit dem Völkerrecht“, so von der Leyen.

Das Außenministerium in Wien zeigte sich „zutiefst entsetzt“ über die Bilder aus Gaza und forderte eine „rasche und unparteiische Untersuchung durch Israel“. Ziviles Leben müsse im Einklang mit internationalem Recht geschützt werden – überall und jederzeit, hieß es auf dem Account des Außenamtes auf X.

Ankara sieht „Verbrechen gegen Menschlichkeit“

Auch China zeigte sich „schockiert über diesen Vorfall und verurteilt ihn aufs Schärfste“, sagte die chinesische Außenamtssprecherin Mao Ning. „Wir drücken unsere Trauer um die Opfer und unser Mitgefühl für die Verletzten aus.“ Sie rief die „betroffenen Parteien und insbesondere Israel“ auf, die Kämpfe zu beenden und die Sicherheit der Zivilbevölkerung „ernsthaft zu schützen“. Eindeutig Partei ergriff die Türkei: Dass israelische Streitkräfte auf Palästinenser geschossen hätten, sei „ein weiteres Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, hieß es aus dem Außenministerium in Ankara.

Es habe sich um ein „abscheuliches Massaker“ gehandelt, das Israel verübt habe, hieß es auch in einer Mitteilung des katarischen Außenministeriums. Die internationale Gemeinschaft müsse Israel zwingen, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, und das palästinensische Volk vor Verstößen schützen, so die Regierung in Doha, die eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen über eine weitere Feuerpause zwischen Israel und der Hamas spielt.

Auch Brasilien übte einmal mehr scharfe Kritik an Israel. Der Einsatz im Gazastreifen habe keine „ethischen oder rechtlichen Grenzen“, hieß es in einer Mitteilung des Außenministeriums. Es seit Zeit, „weitere Massaker“ zu verhindern.

USA stimmten gegen UNO-Erklärung

In New York befasste sich der UNO-Sicherheitsrat in einer Dringlichkeitssitzung hinter verschlossenen Türen mit dem Vorfall. „Der Sicherheitsrat sollte sagen, dass das Maß voll ist“, sagte der Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde bei den Vereinten Nationen, Rijad Mansur, vor der Sitzung. Mansur sprach von israelischen Schüssen auf Köpfe von Zivilisten und schloss daher aus, dass es sich nicht um Absicht gehandelt habe.

Algerien legte einen Entwurf für eine Erklärung vor, in dem „tiefe Besorgnis“ zum Ausdruck gebracht und „Schüsse der israelischen Armee“ für die Eskalation der Lage verantwortlich gemacht werden. Mansur sagte nach der Sitzung, 14 der 15 Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats hätten den Text unterstützt. Nach Angaben aus diplomatischen Kreisen war die Vetomacht USA dagegen, Israel verantwortlich zu machen.

Die Verhandlungen wurden aber fortgesetzt. Der stellvertretende US-Botschafter bei der UNO, Robert Wood, sagte, es werde nach einer Wortwahl gesucht, um zu einer gemeinsamen Erklärung des Gremiums zu kommen. „Das Problem ist, dass wir nicht alle Fakten vorliegen haben.“

Hilfsgüter über Luftbrücke

Einige Länder bringen inzwischen per Luft Hilfsgüter in den Gazastreifen, um die Versorgung aufrechtzuerhalten. Am Freitag warf die jordanische Luftwaffe nach eigenen Angaben Hilfsgüter über dem Küstenstreifen ab. Humanitäre und medizinische Hilfsgüter sollten weiterhin über eine Luftbrücke zum ägyptischen Flughafen al-Arisch oder über Abwürfe in den Gazastreifen gebracht werden, hieß es in der Mitteilung.