Gepanzerte Fahrzeuge nahe dem Nationalgefängnis in Port-au-Prince
Reuters/Ralph Tedy Erol
Port-au-Prince

Ausnahmezustand nach Sturm auf Gefängnis

Die haitianische Regierung hat nach einem Putschaufruf und gewaltsamen Zusammenstößen den Ausnahmezustand für die Hauptstadt Port-au-Prince verhängt. Das Notstandsdekret folgt auf eine dramatische Eskalation der Gewalt am Wochenende, die Teile der Hauptstadt lahmgelegt, die Kommunikation unterbrochen und zu Gefängnisausbrüchen geführt hat. Betroffen war auch die von kriminellen Banden gestürmte größte Haftanstalt des Landes.

Wie viele Häftlinge der insgesamt rund 3.800 Inhaftierten aus dem Nationalgefängnis in Port-au-Prince geflohen sind, ist unklar. Es handle sich vermutlich um eine „überwältigende“ Mehrheit, sagten mit der Angelegenheit vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters. CNN sprach mit Verweis auf eine UNO-Quelle von rund 3.500 Geflohenen. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation RNDDH saßen im Februar vergangenen Jahres 3.687 Häftlinge in dem für 700 Personen ausgelegten Gefängnis ein.

Ebenfalls in Port-au-Prince sei Medienberichten zufolge das zweitgrößte, etwa 1.400 Insassen zählende Gefängnis des Landes gestürmt worden. Schätzungsweise 4.000 Gefangene seien auf der Flucht, so der britische „Guardian“, dessen Angaben zufolge allein beim Sturm auf das Nationalgefängnis rund ein Dutzend Menschen getötet worden seien.

Blick auf das Nationalgefängnis
Reuters/Ralph Tedy Erol
Aus dem Nationalgefängnis sind Schätzungen zufolge rund 3.500 Insassen geflohen

Koordinierte Aktion hinter Angriffen vermutet

Der von der Regierung kurz darauf mit sofortiger Wirkung in Kraft gesetzte Ausnahmezustand gilt zunächst 72 Stunden, kann aber jederzeit verlängert werden. „Die Polizei wurde angewiesen, alle ihr zur Verfügung stehenden legalen Mittel einzusetzen, um die Ausgangssperre durchzusetzen und alle Straftäter festzunehmen“, zitierte der „Guardian“ aus einer Erklärung von Finanzminister Patrick Boivert.

Die jüngsten Angriffe sind offenbar Teil einer koordinierten Aktion krimineller Banden, die sich unter dem Namen „Vivre Ensemble“ („Zusammenleben“) zusammengeschlossen haben. Die Gewalt hatte am Donnerstag begonnen. Der mächtige Bandenchef Jimmy „Barbecue“ Cherisier sagte in einem in Onlinenetzwerken veröffentlichten Video, dass die gemeinsamen Aktionen rivalisierender bewaffneter Gruppen auf den Rücktritt von Regierungschef Ariel Henry abzielten.

Ausnahmezustand und Ausgangssperre in Haiti

Angesichts der eskalierenden Lage in Haiti nach einem Angriff bewaffneter Banden auf das Nationalgefängnis in der Hauptstadt Port-au-Prince und einem Putschaufruf gegen Premierminister Ariel Henry hat die Regierung einen mindestens dreitägigen Ausnahmezustand ausgerufen.

Seit Jahren eskalierende Krise

Der Karibik-Staat Haiti steckt seit Jahren in einer schweren Krise, zu der neben Bandengewalt auch politische Instabilität und wirtschaftliche Not beitragen. Allein in den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der auf humanitäre Hilfe angewiesenen Menschen in dem Land UNO-Angaben zufolge verdoppelt.

Die Ermordung von Präsident Jovenel Moise im Jahr 2021 verschlimmerte die Sicherheitslage dramatisch. Zuletzt wurden im Jänner nach UNO-Angaben in Haiti mehr als 1.100 Menschen getötet, verletzt oder entführt. „Die bereits katastrophale Menschenrechtslage mit anhaltender Gewalt und Bandenkriminalität hat sich noch verschlimmert. Das hat katastrophale Auswirkungen auf die Menschen in Haiti“, sagte unlängst UNO-Menschenrechtskommissar Volker Türk.

Seit 2016 gab es keine Wahlen mehr. Der Posten des Präsidenten ist vakant. Erst vor wenigen Tagen unterzeichnete Haitis Regierungschef Henry mit Kenias Präsident William Ruto ein Abkommen über den Einsatz von kenianischen Polizeikräften in Haiti. Kenia hatte sich bereiterklärt, eine multinationale, vom UNO-Sicherheitsrat im Oktober gebilligte Eingreiftruppe zu leiten, um die Lage in Haiti zu stabilisieren. Nairobi will zu diesem Zweck 1.000 Sicherheitskräfte entsenden.

Der haitische Premierminister Ariel Henry
APA/AFP/Simon Maina
Der Widerstand gegen Premier und Interimspräsident Henry hat sich zuletzt verschärft

Hürden zur Hilfe

Im Jänner erklärte ein Gericht in Nairobi die Entscheidung der kenianischen Regierung jedoch für verfassungswidrig – unter anderem deswegen, weil die beiden Länder kein Abkommen zu dem Thema geschlossen hatten. Erst vergangene Woche unternahm Henry mit einem Besuch in Nairobi den nächsten Vorstoß, um die Entsendung der internationalen Eingreiftruppe in die Wege zu leiten.

Es ist unklar, ob und wie das in Nairobi unterzeichnete Abkommen das Gerichtsurteil vom Jänner umgehen könnte, das auch besagt, dass Kenias nationaler Polizeidienst nicht außerhalb des Landes eingesetzt werden darf. Das Abkommen sieht eine zunächst auf ein Jahr begrenzte Mission und die Entsendung von 1.000 Sicherheitskräften vor. Fünf Länder haben sich bereiterklärt, an der Mission teilzunehmen: die Bahamas, Bangladesch, Barbados, Benin und Tschad.