Satellitenbild der Grenze von Gaza und Israel
Reuters/Maxar Technologies
Hamas vs. Israel

Der Kampf ums andere „Überleben“

Seit Wochen versuchen die USA gemeinsam mit Ägypten und Katar, eine zweite Waffenruhe und einen weiteren Geiseldeal zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas zu vermitteln. Auch beim aktuellen Anlauf in Kairo sind die Erfolgsaussichten ungewiss. Die Hauptursache dafür ist, dass die Hauptakteure vor allem ums eigene – politische – „Überleben“ kämpfen. Das Leben der Geiseln und der Zivilbevölkerung in Gaza droht zur „Nebensache“ zu werden.

Die beiden Seiten werfen sich gegenseitig vor, eine Einigung zu verhindern. Was bei den Verhandlungen hinter den Kulissen genau abläuft, ist kaum zu rekonstruieren, und was an die Öffentlichkeit dringt, hat immer einen „Spin“ – echte oder erfundene Details werden geleakt, um die Verhandlungen so indirekt zu beeinflussen.

Die Verhandlungen sind dabei nicht nur inhaltlich, sondern allein schon kommunikationstechnisch kompliziert: Israel und Hamas reden nicht direkt miteinander. In der Regel wird zuerst mit Israel verhandelt, dann verhandeln Ägypten und Katar, die den meisten Einfluss auf die Hamas haben, auf Basis dessen mit der Terrororganisation. Nur wenn es überhaupt eine gewisse Aussicht auf eine Einigung gibt, schicken sodann beide Seiten ein Verhandlungsteam nach Kairo oder Doha. Beim ersten Geiseldeal hielten sich Delegationen beider Kriegsparteien gleichzeitig in Doha auf. In Kairo ist das nicht der Fall.

Ramadan kein Faktor mehr?

Die Zeit drängt: Nicht nur wegen des Lebens der israelischen Geiseln und der Zivilbevölkerung in Gaza, sondern auch, weil bereits am Sonntag der islamische Fastenmonat Ramadan beginnt, zu dem sich der Nahost-Konflikt seit vielen Jahren immer wieder gefährlich zuspitzt. Anders als beim ersten Geiseldeal – als die Hamas rasch zustimmte, weil sie die Kinder unter den Geiseln loswerden wollte und Zeit brauchte, um sich so weit als möglich zu reorganisieren – hat die Hamas es diesmal offenbar nicht eilig. Auf die eigene Zivilbevölkerung wird praktisch keine Rücksicht genommen, obwohl das Fastengebot zwischen Sonnenauf- und -untergang die dramatische humanitäre Lage im Gazastreifen noch weiter verschärfen dürfte. Im Gegenteil: Das maßlose Leid der Bewohnerinnen und Bewohner von Gaza und der steigende internationale Druck auf Israel dient der Hamas als Trumpfkarte in den Verhandlungen.

Menschen gehen bei Jabalia an zerstörten Gebäuden vorbei
Reuters/Mahmoud Issa
Menschen in der weitgehend zerstörten Stadt Dschabalija im Norden Gazas

Und in Israel wird gemutmaßt, dass die Hamas die Fortsetzung des Kriegs während des Ramadan als Chance sieht, einen Aufstand in den israelisch besetzten Gebieten Ostjerusalem und Westjordanland – und vielleicht sogar unter den arabischen Israelis – auszulösen. Das könnte insbesondere dann passieren, wenn israelischen Arabern und Palästinensern aus den besetzten Gebieten der Zugang zum Tempelberg, wie vom rechtsextremen Innenminister Itamar Ben-Gvir verlangt, stark eingeschränkt werden sollte.

Das übergeordnete Ziel der Hamas derzeit ist klar: alles dafür tun, dass die Terrororganisation als Organisation politisch, verwaltungstechnisch und militärisch handlungsfähig bleibt. Sie kämpft also ums eigene politische Überleben. Die israelischen Geiseln sind hierbei das mit Abstand wichtigste Faustpfand.

Netanjahu kehrt starken Mann hervor

In Israel wiederum kämpft Regierungschef Benjamin Netanjahu nach dem Staatsversagen beim Hamas-Überfall am 7. Oktober weiter ums politische Überleben, auch wenn er mittlerweile wieder fester als unmittelbar danach im Sattel sitzt. Je länger der Krieg dauert, desto besser für Netanjahu, da damit die politische Abrechnung auf die lange Bank geschoben wird. Für Netanjahu hat die Zerschlagung der Hamas Priorität, erst recht für seine rechten und rechtsextremen Koalitionspartner.

Längst hat Netanjahu wieder eine seiner Lieblingsrollen, die des international erfahrenen Verhandlers, der angeblich als Einziger auch dem Druck der USA standhalten kann, aufgenommen. Viele Angehörige werfen Netanjahu vor, die Geiseln de facto aufgegeben zu haben. Tatsache ist, dass das Sicherheitskabinett in dieser Frage gespalten ist.

Demonstrierende in Tel Aviv fordern US-Unterstützung für einen Geiseldeal Israels mit der Hamas
Reuters/Carlos Garcia Rawlins
Angehörige der Geiseln bitte US-Präsident Biden um Hilfe

Israel als „offenes Buch“ für Hamas

Die nach dem Hamas-Überfall aus der Opposition in das Kabinett eingetretenen Ex-Generäle Benni Ganz und Gadi Eisenkot drängen stärker auf einen Geiseldeal und sind zu mehr Konzessionen bereit. Aber die Forderung der Angehörigen nach einem Geiseldeal um jeden Preis lehnen auch sie ab. Da ein solcher künftig zur Verhandlungsbasis im Fall weiterer Entführungen und Kriege würde.

Die internen Spaltungen und das innenpolitische Chaos – vorübergehend von der Tragödie des Hamas-Überfalls übertüncht, mittlerweile aber dieses eher noch verschärfend – führen außerdem dazu, dass viele verhandlungstaktisch wichtige Abwägungen oft öffentlich und nicht hinter den Kulissen stattfinden. Für die Hamas ist Israel damit so einfach „lesbar“ wie wohl noch nie zuvor.

Unmögliche Bedingungen

Beide Seiten stellen Bedingungen, die für die Gegenseite nicht akzeptabel sind: Netanjahu forderte vorab eine Liste der Geiseln, die freikommen würden – eigentlich einer der letzten Schritte, nachdem es bereits eine Grundsatzeinigung gibt. Die Hamas fordert ein Rückkehrrecht der Bevölkerung – und damit der Hamas – in den Norden Gazas.

Beide Seiten haben aus ihrer Sicht zudem Möglichkeiten, zu eskalieren: Die Hamas könnte Videos von Geiseln veröffentlichen; das Leid der Bevölkerung in Gaza erhöht zudem ständig den Druck auf Israel. Israel wiederum könnte vor allem Rafah angreifen. Fertige Armeepläne erhielten bisher aber kein grünes Licht der Regierung.

Einschränkende Faktoren für USA

Nur ein deutlich höherer Druck der USA – auf Israel wie auf die Vermittler Katar und Ägypten, die starke „Hebel“ gegen die Hamas in Händen halten (Geld, politische Immunität bzw. geografische Verbindung zur Welt) – kann aus derzeitiger Sicht wohl Bewegung in die starren Verhandlungsfronten bringen. US-Präsident Joe Biden hält weiter an seinem Plan, den Hamas-Überfall und den Gaza-Krieg als Chance für eine Neusortierung des Nahen Ostens zu nutzen, fest.

Für dieses den Iran neutralisierende geostrategische Bündnis, das von Ägypten über Israel bis Saudi-Arabien reichen soll, ist Biden aber auf Kairo und Doha angewiesen. Das bedeutet wiederum, dass er den beiden Ländern nicht mit Entzug von Finanz- oder Militärhilfen drohen kann, sondern sie partnerschaftlich behandeln muss und nur in diplomatischen Dosen Druck ausüben kann.

Innenpolitische Fallen für Biden

Den Druck auf Israel, konkret Netanjahu, hat Biden schon um mehrere Stufen erhöht. Am Montag wurde dann noch Ganz in Washington empfangen, nicht aber Netanjahu. Wird zu geringer US-Druck bemängelt, wird oft nicht mitbedacht, dass Israel seit Jahrzehnten der mit großem Abstand wichtigste regionale Partner der USA ist – mit entsprechend enger wirtschaftlicher, politischer und militärischer Verflechtung.

Zugleich wird das Zustandekommen einer Waffenruhe und eines Geiseldeals für Biden selbst immer unmittelbarer innenpolitisch zu einer Überlebensfrage: Angesichts der tiefen Spaltung der demokratischen Wählerschaft in den USA in der Nahost-Frage muss er das schier Unmögliche versuchen und einen Mittelweg finden, um seine eigenen Wiederwahlchancen im November nicht zu gefährden.