Rauchwolke über der libenesischen Ortschaft Khiyam nach einem israelischen Raketenangriff
APA/AFP
Hisbollah vs. Israel

Gefahr der „Fehlkalkulation“ steigt

Mit den starken Feuergefechten zwischen Israel und der proiranischen Miliz Hisbollah im Libanon am Montag und Dienstag steigt die Sorge vor einer Eskalation des Nahost-Konflikts – über den Gaza-Krieg hinaus. Bisher sind beide Seiten strikt bemüht, nicht gegen die seit Jahren geltenden „Spielregeln“ grob zu verstoßen. Doch mit den jüngsten Gefechten nimmt die Gefahr einer „Fehlkalkulation“ zu.

Die libanesische Hisbollah-Miliz feuerte Dienstagfrüh nach eigenen Angaben mehr als 100 Katjuscha-Raketen auf israelische Militärposten – nicht nur an der Grenze, sondern auch weit im Landesinneren, in Galiläa, ab. Die Islamistenmiliz sprach von einer Antwort auf den israelischen Beschuss der ostlibanesischen Bekaa-Ebene in der Nacht davor.

Bei den israelischen Angriffen war laut Angaben der lokalen Behörden mindestens ein Zivilist getötet worden. Bisher konzentrierte sich das israelische Militär bei der Auseinandersetzung mit der Hisbollah auf das Grenzgebiet im südlichen Libanon.

Immer weiter entfernte Ziele

Libanesischen Sicherheitskreisen zufolge weitete Israel den Beschuss zuletzt aber weiter nach Norden aus. Und auf den Raketenregen der Hisbollah antworteten die israelischen Luftstreitkräfte nur wenige Stunden später. Sie beschossen laut eigenen Angaben Militärstützpunkte der Hisbollah bei Baalbek in der Bekaa-Ebene, die ebenfalls vom Grenzgebiet weit entfernt ist. Die Hisbollah teilte mit, dass bei den Angriffen zwei ihrer Kämpfer getötet worden seien.

Immer öfter äußern Beobachter auf beiden Seiten, aber auch in den USA und Europa, die Sorge, dass eine der beiden Gegner eine „Fehlkalkulation“ vornimmt: Eine einzige unbedachte Aktion, ja schon ein nicht beabsichtigter Treffer oder Blindgänger, könnte dann die bisher von beiden Seiten eingesetzte Taktik begrenzter und kalkulierter Schläge und Gegenschläge eskalieren lassen.

Israelischer Merkava-Panzer in der Grenzstadt Metulla (Israel)
IMAGO/Xinhua/Liu Zongya
Israels Armee patrouilliert in den weitgehend verlassenen Orten – hier in Metulla – an der Grenze zum Libanon

Kontrollierte Feindlichkeiten

Das Kalkül der Terrororganisation Hamas, mit dem Überfall auf Israel am 7. Oktober einen Flächenbrand im Nahen Osten auszulösen, ist nicht aufgegangen. Auch die Hisbollah-Miliz eröffnete keine zweite Front gegen Israel. Kleinere Angriffe und die Gefahr, dass im dicht besiedelten Gebiet an der Nordgrenze Israels die Hisbollah einen ähnlichen Überfall wie die Hamas von Gaza aus versuchen könnte, veranlassten die Regierung dazu, rund 80.000 Menschen von dort vorübergehend abzusiedeln. Das allein war und ist schon ein großer Erfolg für Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah – und das quasi ohne Aufwand.

Seit Monaten gibt es praktisch täglich kleinere oder größere Schusswechsel. Auch viele Menschen im Südlibanon flüchteten ihrerseits vor israelischen Angriffen weiter in das Landesinnere. Bei den Kämpfen seither kamen auf libanesischer Seite etwa 300 Menschen ums Leben, auf israelischer Seite 18.

Druck auf israelische Regierung

Die vorübergehend abgesiedelten Israelis leben noch immer im ganzen Land verstreut, teils in Hotels untergebracht, und drängen die Regierung, Klarheit zu schaffen. Die überwiegende Mehrheit befürwortet einen Krieg gegen die Hisbollah – verbunden mit der Hoffnung, sie so weit von der Grenze zurückzudrängen, dass die Raketen Israel nicht mehr erreichen können.

Israels Verteidigungsminister Joav Galant wollte bereits kurz nach dem Überfall der Hamas eine zweite Front gegen die Hisbollah eröffnen, um so die israelische Abschreckungswirkung in der gesamten Region wiederherzustellen. Denn Kern der israelischen Sicherheitsdoktrin ist es, dass das Land – umgeben von tatsächlichen und potenziellen Feinden – eine so große starke militärische Übermacht ausstrahlen muss, dass kein Land einen Angriff wagt. Durch den Hamas-Überfall ist diese Abschreckung zumindest vorübergehend zerstört.

Zur Eröffnung der zweiten Front kam es nicht: Einerseits wegen des Drucks der USA, die fürchteten, das könnte eine direkte Konfrontation mit dem Iran auslösen. Andererseits lehnten Regierungschef Benjamin Netanjahu und die beiden aus der Opposition ins Sicherheitskabinett geholten Ex-Armeechefs Benni Ganz und Gabi Eisenkot einen präventiven Krieg gegen die Hisbollah ab.

Libanesische Soldaten vor einem zerstörten Gebäude in Saraain in der libanesischen Bekaa-Ebene
Reuters/Mohamed Azakir
Israel griff zuletzt mehrmals einzelne Ziele in der weit nördlich gelegenen Bekaa-Ebene an

„Fehlentscheidungen“ der Armee

Nicht zuletzt gibt es Stimmen, dass die Armee aufgrund von Einsparungen und strategischen Entscheidungen – etwa eine deutliche Reduzierung der Bodentruppen und der Miliz – gar nicht in der Lage wäre, einen Krieg an beiden Fronten gleichzeitig zu führen. Diese Position vertrat erst am Montag der Milizgeneral Jitzchak Brik in einem Kommentar der Tageszeitung „Maariv“. Er warf der Armee schwere Fehlentscheidungen in den letzten Jahren vor und zeigte sich sogar überzeugt, dass ein Zweifrontenkrieg die Existenz Israels bedrohen würde. Brik forderte den Rücktritt der gesamten militärischen und politischen Führung.

Israel sieht Abschreckung seit 2006

In Israel ist man – trotz anfänglich scharfer Kritik – überzeugt, dass die disproportionale Reaktion auf einen Angriff der Hisbollah auf die Ermordung von drei und Entführung von zwei Soldaten aus Israel 2006 eine bis heute wirksame Abschreckungswirkung schuf. Dieser zweite Libanon-Krieg dauerte rund ein Monat. In dem Krieg wurden bis zu 1.300 Libanesen und 165 Israelis getötet. Israel zerstörte wichtige Teile der Infrastruktur, darunter den Flughafen von Beirut. Die nicht schiitische Bevölkerung im Libanon macht bis heute großteils die Hisbollah für die damalige Zerstörung verantwortlich.

Die USA versuchen, seit Monaten zu vermitteln. Präsident Joe Bidens Sondervermittler Amos Hochstein ist seitdem ständig in einer Pendelmission unterwegs, um eine friedliche Beilegung zu erreichen. Nasrallah kündigte allerdings an, erst nach einem Waffenstillstand im Gaza-Krieg die Angriffe einzustellen. In Israel drohte Verteidigungsminister Galant zuletzt, dass die andauernden Angriffe der Hisbollah eine Entscheidung für einen Einmarsch im Libanon „näherbringen“.