Jugendliche in Port-au-Prince mit erhobenen Händen
AP/Odelyn Joseph
Staatskollaps mit Anlauf

Chaos in Haiti schreckt auch Vermittler ab

Bittere Armut, ein amtierender Premier, der nach einer Auslandsreise nicht mehr ins Land gelassen wurde und den Rücktritt ankündigte, und Banden, die nicht nur für Schrecken und Gewalt sorgen, sondern mittlerweile das Land auch de facto kontrollieren: Haiti versinkt immer noch tiefer im Chaos. Die Ursprünge der Krise sind teils Jahrzehnte alt – ebenso wie die Gründe dafür, dass es kaum Hilfe von außen gibt. Allen voran die USA halten sich zurück.

Mit republikanischen Gegenstimmen wurde ein 40-Millonen-Dollar-Hilfspaket für eine UNO-Mission in Haiti laut Angaben von Freitag im Kongress verweigert. Das US-Außenministerium wollte die Gelder auf schnellem Weg beschließen lassen. US-Außenminister Antony Blinken hatte zuletzt ein Paket in Höhe von 300 Mio. Dollar angekündigt, 200 Millionen vom Verteidigungsministerium wurden schon abgesegnet.

Die USA beschränken sich allerdings auf finanzielle Unterstützung: Eine Entsendung von Truppen hatte US-Präsident Joe Biden bereits Anfang März ausgeschlossen. Am Donnerstag setzte er zudem einen neuen Botschafter für die vakante Stelle in Haiti ein. Am Freitag sagte Samantha Power, Leiterin der US-Behörde für internationale Entwicklung, 25 Millionen Dollar für humanitäre Hilfe zu. Auch andere Länder und die UNO beschränken sich auf Hilfslieferungen, politische Vermittlungsversuche bleiben aber weitgehend aus.

UNO-Mission beschlossen, aber nie umgesetzt

Bereits im Oktober 2023 hatte der UNO-Sicherheitsrat eine Mission zur Unterstützung der haitianischen Polizei genehmigt. Kenia erklärte sich bereit, die Führung zu übernehmen, die Entsendung geriet aber ins Stocken, weshalb Haitis Interimspremierminister Ariel Henry nach Kenia reiste.

In seiner Abwesenheit eskalierte die Gewalt in der Hauptstadt Port-au-Prince. Das politische Machtvakuum nutzend, schlossen sich die beiden größten Banden des Landes, G9 und Gpep, zusammen, um gegen die Regierung vorzugehen. Ihr Sprachrohr ist G9-Bandenchef Jimmy Cherizier, Spitzname „Barbecue“, der zuletzt den Ton eines Sozialrevolutionärs einnahm und offen mit Bürgerkrieg drohte, sollte die Regierung nicht zurücktreten. Politische Ambitionen dürfte der Ex-Polizist aber nicht haben.

Jimmy Chérizier Barbecue
Reuters
Bandenchef Jimmy Cherizier alias „Barbecue“ ist derzeit die dominante Figur in Haiti

Versuche für Interimsregierung bisher gescheitert

Die bisherigen Versuche, zumindest eine handlungsfähige Interimsregierung wieder einzusetzen, scheiterten. Die Gründung eines Übergangspräsidialrats auf Vorschlag der Karibischen Gemeinschaft (CARICOM) kam bisher nicht zustande. Der Rat sollte unter anderem eine neue Interimsregierung bestimmen, um Wahlen zu ermöglichen. Es wären die ersten seit 2016. Henry kündigte an, zurückzutreten, sobald der Rat stehe. Derzeit kann Henry, der auch kommissarisch als Präsident agiert, nicht mehr ins Land einreisen.

Allerdings gab es von Anfang an Skepsis, ob eine UNO-Mission mit ein paar tausend kenianischen Sicherheitskräften, die weder französisch noch haitianisch-kreolisch sprechen, den bis an die Zähne bewaffneten Banden etwas entgegensetzen könnte. Weitere Einsatzkräfte sagten nur Benin, die Bahamas, Bangladesch, Barbados und der Tschad zu.

US-Interventionen auf Haiti mit Folgen

Die USA zeigen aus historischen Gründen kein Interesse mehr, das Land zu stabilisieren: 1915 waren US-Truppen in Haiti einmarschiert, vor allem, um das Land aus wirtschaftlichen Interessen zu stabilisieren. 19 Jahre dauerte die Besatzung, zwei Aufstände wurden brutal niedergeschlagen.

Jahrzehnte später, in den Jahren 1994 und 2004, entsandten die USA wieder Truppen nach Haiti: Zunächst um dem in einem Putsch gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide wieder an die Macht zu helfen, zehn Jahre später um nach erneutem Sturz von Aristide für Stabilität zu sorgen. Beide Einsätze wurden später UNO-Missionen, Letztere blieb bis 2017.

Früherer Präsident Aristide hält eine Rede
Reuters
Aristide fiel nach Wahlmanipulationsvorwürfen auch bei den USA in Ungnade

Nicht nur alleine die Erfahrungen aus Haiti selbst sorgen dafür, dass der ehemalige Weltpolizist sich selbst außer Dienst gestellt hat, selbst wenn es um den ehemaligen „Hinterhof“ geht. Auch die Erfahrungen aus dem Irak und Afghanistan haben die US-Außenpolitik nachhaltig verändert.

Verheerendes Erdbeben und Cholera von Blauhelmen

Dass die Menschen in Haiti eine mögliche UNO-Mission nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen, hat auch andere Gründe: Nach dem großen Erdbeben 2010 mit bis zu 316.000 Toten – ein weiterer riesiger Puzzlestein für den Niedergang des Landes – brach die Cholera aus. Eingeschleppt wurde die Krankheit durch nepalesische UNO-Soldaten. Auch Berichte zu systematischen sexuellen Übergriffen der Blauhelme auf die Bevölkerung schüren bis heute starke Antipathien in Haiti.

UN-Blauhelme nach dem Erdbeben in Haiti im Einsatz
AP/Jorge Saenz
Die UNO-Mission endete unrühmlich

Präsidentenmord 2021 als nächster Tiefpunkt

Begonnen hat die derzeitige Krise 2018 mit Protesten nach Treibstoffengpässen und Korruptionsvorwürfen gegen die Regierung. Die Polizei ging immer brutal gegen Protestierende vor, mehrere regierungskritische Journalisten wurden ermordet. Die Rolle der Banden blieb dubios, während es einerseits immer wieder Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften gab, hielten sich andererseits die Gerüchte, die Regierung würde die Kriminellen auch gezielt einsetzen.

Mehrere Regierungsumbildungen konnten die Krise nicht lösen. Präsident Jovenel Moise wurde im Juli 2021, zwei Tage nachdem er Ariel Henry als Premier ausgewählt hatte, erschossen. Die Umstände des Mordes sind noch immer geheimnisumwittert.

Der Verfall der staatlichen Strukturen gewann weiter an Fahrt, die Banden beherrschten bald weite Teile des Landes und 80 Prozent der Hauptstadt. Die Mordrate verdoppelte sich. Die Polizei ist mit etwa 10.000 aktiven Beamten im ganzen Land stark unterbesetzt. Nach UNO-Schätzungen werden etwa 26.000 benötigt. Etwa 1.600 Beamte haben letztes Jahr ihren Dienst quittiert. Das Militär wurde Mitte der 90er Jahre unter Aristide aus Angst vor Putschversuchen aufgelöst. Spätere Neugründungsversuche gelten eher als gescheitert.

Die Wurzeln des „failed state“

Manche Beobachter setzen die Wurzeln für den „failed State“ Haiti noch viel früher an: Haiti galt als französische Kolonie als reichstes Land der Region. Ende des 18. Jahrhunderts nahm mit einem Sklavenaufstand die Haitianische Revolution ihren Beginn. 1804 wurde das Land unabhängig, allerdings zu einem hohen Preis: 1825 wurden Reparationszahlungen zur „Entschädigung“ der französischen Kolonialherren vereinbart, die Haiti tatsächlich über Jahrzehnte abstotterte und die das Land wirtschaftlich in den Abgrund rissen.

Richtig zur Ruhe kam das Land praktisch nie, auch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Abfolge von Diktaturen und Aufständen gegen Korruption und Unterdrückung – von den Jahren der Duvalier-Diktatur unter Francois Duvalier („Papa Doc“) und seinem Sohn Jean-Claude Duvalier („Baby Doc“) von 1957 bis 1986 bis zu den turbulenten Jahren unter dem ehemaligen Armenpriester Aristide, der zwischen 1991 und 2004 viermal Präsident wurde und ebenso oft wieder abdanken musste bzw. aus dem Amt geputscht wurde.

Die Entwicklung der vergangenen Jahre und Monate ist damit gleichzeitig Folge und auch Eskalation einer jahrzehntelangen Abwärtsspirale, deren Ende kaum absehbar ist.