Kinder mit Töpfen bei einer Essensausgabe in Rafah
Reuters/Mohammed Salem
Fachleute zu Gaza

Hungersnot steht unmittelbar bevor

Angesichts der humanitären Krise im Gazastreifen warnen nun neben Politikern und Politikerinnen auch international anerkannte Experten und Expertinnen vor einer unmittelbar bevorstehenden Hungersnot in Teilen Gazas. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell warf am Montag Israel vor, Hunger gezielt als Waffe einzusetzen. US-Präsident Joe Biden forderte Israels Premier Benjamin Netanjahu auf, eine Delegation zu schicken, um über Bedenken wegen der geplanten Bodenoffensive in Rafah zu sprechen.

Eine veritable Hungersnot wird von Expertinnen und Experten bald erwartet: Im Norden des abgeriegelten Küstenstreifens werde diese voraussichtlich zwischen Mitte März und Mai eintreten, hieß es am Montag in dem neuen Bericht der Integrated Food Security Phase Classification (IPC).

In den vergangenen Monaten habe man eine zunehmende Verschlechterung der Ernährungssituation festgestellt, so der Bericht weiter. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung in dem abgeriegelten Küstenstreifen – etwa 1,1 Millionen Menschen – ist nach IPC-Kriterien in der schlimmsten Notlage. Im Gazastreifen leben rund 2,4 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser.

Rauch im Norden des Gaza Streifens
Reuters/Ahmed Zakot
Im gesamten Gazastreifen ist die Bevölkerung Expertinnen und Experten zufolge mit aktuter Mangelernährung konfrontiert

„Hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit“

Die Initiative ist für die Analyse von Nahrungskrisen zuständig. Sie hat ein mehrstufiges System, nach dem es beurteilt, wie viele Menschen wie stark von Hunger betroffen sind. Die höchste Stufe fünf wird mit „hungersnotähnlichen Zuständen“ umschrieben. Die IPC-Initiative wird von den Vereinten Nationen genutzt und besteht aus vielen verschiedenen UNO-Organisationen und internationalen Hilfsgruppen.

Im gesamten Gazastreifen ist die Bevölkerung nach Angaben der Experten und Expertinnen mit einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert. Bereits Ende vergangenen Jahres schlugen die Experten Alarm. Zu dem Zeitpunkt waren fast 577.000 Menschen in der höchsten Kategorie. Seitdem hat sich die Lage weiter verschärft.

Akute Mangelernährung bei Kindern

Sollten die Feindseligkeiten nicht aufhören und humanitäre Hilfe nicht bald in großem Umfang die bedürftigsten Menschen erreichen, drohe im schlimmsten Fall auch für den Rest des Gazastreifens die unmittelbare Gefahr einer künftigen Hungersnot, so die Experten und Expertinnen. Die offizielle Einstufung als Hungersnot bedeutet konkret, dass mindestens 20 Prozent der Bevölkerung von extremem Mangel an Nahrung betroffen sind.

Zudem leidet laut IPC dann mindestens jedes dritte Kind unter akuter Mangelernährung. Außerdem kommt es zu mindestens zwei Todesfällen pro Tag pro 10.000 Einwohner, verursacht durch unmittelbaren Hungertod oder durch die Kombination aus Mangelernährung und Krankheiten. Nach den neuesten Daten des IPC-Berichts verzichten praktisch alle Haushalte täglich auf Mahlzeiten, Erwachsene reduzieren ihre Mahlzeiten, damit Kinder essen können.

Josep Borrell
AP/Virginia Mayo
EU-Außenbeauftragter Josep Borrell bezeichnete den Gazastreifen als „größten Open-Air-Friedhof“

Borrell: Israel setzt „Hunger als Waffe“ ein

Der Außenbeauftragte der Europäischen Union, Josep Borrell, warf am Montag Israel vor, eine Hungersnot im Gazastreifen zu provozieren. Israel setze „Hunger als Waffe im Krieg“ gegen die Terrororganisation Hamas ein, sagte er in Brüssel. „Tausende Menschen sind betroffen“, so Borrell. „Der Gazastreifen war vor dem Krieg das größte Open-Air-Gefängnis. Nun ist es der größte Open-Air-Friedhof, für Menschen und für humanitäres Recht“, so der EU-Außenbeauftragte weiter.

Der israelische Außenminister Israel Katz verbat sich solche Vergleiche. Er rief Borrell auf, „Israel nicht weiter anzugreifen und unser Recht auf Selbstverteidigung gegen die Verbrechen der Hamas anzuerkennen“, wie er auf X (Twitter) schrieb. „Israel lässt umfangreiche humanitäre Hilfe für Hilfswillige auf dem Land-, Luft- und Seeweg nach Gaza zu“, sagte Katz.

Türk sieht Anzeichen für Kriegsverbrechen

Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht Anzeichen dafür, dass Israel den Hunger im Gazastreifen als Kriegsmethode einsetzt. Das sei ein Kriegsverbrechen, teilte er am Dienstag in Genf mit. Die Feststellung, ob das tatsächlich passiere, müsse aber von Gerichten getroffen werden, sagte ein Sprecher seines Büros.

„Das Ausmaß, in dem Israel die Einfuhr von Hilfsgütern in den Gazastreifen weiterhin einschränkt, sowie die Art und Weise, in der es die Feindseligkeiten fortsetzt, kann auf den Einsatz von Hunger als Kriegsmethode hinauslaufen, was ein Kriegsverbrechen darstellt“, so Türk weiter. Als Besatzungsmacht habe Israel die Pflicht, die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und medizinischer Betreuung zu versorgen. „Israel muss sicherstellen, dass die Bevölkerung auf sichere und menschenwürdige Weise Zugang zu dieser Hilfe hat.“

UNRWA-Chef: Hunger „menschengemacht“

Der Leiter des UNO-Palästinenserhilfswerks (UNRWA), Philippe Lazzarini, sagte am Montag, dass der Hunger im Gazastreifen „menschengemacht“ sei. „Wir befinden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit, um die Auswirkungen des sich ausbreitenden Hungers und der drohenden Hungersnot im Gazastreifen umzukehren“, so der UNRWA-Chef während einer Pressekonferenz in Kairo mit dem ägyptischen Außenminister Samih Schukri.

Die Krise könne durch den richtigen politischen Willen gelöst und umgekehrt werden, Gaza könne über die Grenzübergänge mit Nahrungsmitteln „überflutet“ werden, fügte er hinzu.

Telefonat zwischen Biden und Netanjahu

Erstmals nach einer längeren Pause hatte US-Präsident Biden auch wieder mit Israels Regierungschef Netanjahu telefoniert. In dem Austausch am Montag sei es um die Situation in Rafah sowie um humanitäre Hilfe für die Menschen an Ort und Stelle gegangen, wie das Weiße Haus mitteilte. Zuletzt hatten Biden und Netanjahu Mitte Februar miteinander telefoniert. Die US-Regierung will in den kommenden Tagen mit einer hochrangigen Delegation aus Israel über Bedenken wegen der geplanten Bodenoffensive in Rafah sprechen.

U.S. Präsident Joe Biden zusammen mit dem israelischen Präsidenten Benjamin Netanyahu
IMAGO/Miriam Alster
Biden und Netanjahu hatten am Montag seit Langem wieder miteinander telefoniert (hier bei einem Treffen im Oktober 2023)

Der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, sagte, Biden habe Netanjahu aufgefordert, in den nächsten Tagen ein Team aus Vertreterinnen und Vertretern von Militär, Geheimdiensten und Spezialistinnen und Spezialisten für humanitäre Hilfe nach Washington zu entsenden. Es gehe darum, die Vorbehalte der US-Regierung im Detail darzulegen und mögliche Alternativen zu erörtern. Netanjahu habe zugestimmt, ein solches Team zu schicken. Biden habe Netanjahu auch gesagt, dass er über diese Pläne „zutiefst besorgt“ sei und ein solcher Militäreinsatz ein „Fehler“ wäre, so Sullivan, der das jetzige Gespräch als „geschäftsmäßig“ bezeichnete.

„Wir gehen davon aus, dass sie mit der großen Militäroperation in Rafah nicht vorangehen werden, bis wir dieses Gespräch geführt haben“, sagte Sullivan mit Blick auf die Israelis. Ein Treffen sei für Ende dieser Woche oder Anfang kommender Woche angepeilt. Einen konkreten Termin gebe es noch nicht. Mehr als eine Million Menschen hätten Zuflucht in Rafah gesucht, und Israel habe weder den USA noch der Welt einen Plan präsentiert, wie diese Schutzsuchenden in Sicherheit gebracht und versorgt werden könnten.