Atomkraftwerk Cruas an der Rhone in Frankreich
IMAGO/Alice Dias Didszoleit
„Grüner“ Strom

Neue Lobby für die Atomkraft

In der Frage, wie „grün“ Atomkraft ist, gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Für ihre Befürworter und Befürworterinnen ist sie nachhaltig, das Hauptargument ist Emissionsfreiheit. Mehrere Länder in und außerhalb der EU wollen künftig noch stärker auf Nuklearenergie setzen. Am Donnerstag fand ein Treffen in Brüssel statt, um weitere Türen dafür aufzustoßen.

Deutschland hatte im letzten Jahr seine letzten drei Reaktoren stillgelegt, in Österreich war Atomstrom nach der Volksabstimmung 1978 gegen das AKW Zwentendorf sowieso kein Thema mehr. In der EU liebäugelt inzwischen allerdings eine knappe Mehrheit mit Atomkraft.

Am Donnerstag trafen einander auf Einladung des aktuellen belgischen EU-Ratsvorsitzes und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) mehrere Staats- und Regierungschefs und Vertreter aus insgesamt 35 Ländern inner- und außerhalb der EU, die bereits Kernenergie nutzen, und solcher, die sie künftig nutzen wollen, zum ersten weltweiten „Atomenergiegipfel“ (Nuclear Energy Summit, NES 2024). Das Ziel: Lobbying für die Atomindustrie. Das Hauptargument: der Klimawandel.

CO2-Rechnung nicht ganz korrekt

Auf EU-Linie gilt Atomenergie seit 2022 als sauber (und laut Taxonomieverordnung, Klassifizierung von Technologien als „grün“) und nachhaltig, zumindest als Übergangstechnologie. Tatsächlich setzen AKWs im Betrieb keine Treibhausgase frei, sind aber über ihren ganzen Lebenszyklus keineswegs CO2-neutral, wenn man die Gewinnung von Rohstoffen, die aufwendige Errichtung und andere Faktoren einkalkuliert. Die Sicherheit ist wieder ein anderes Thema.

Atomkraftwerk Dukovany in Tschechien
IMAGO/H. Tschanz-Hofmann
Österreich bereiten vor allem die grenznahen AKWs (im Bild: Dukovany in Tschechien) Sorge

Dennoch sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei dem Treffen am Donnerstag, dass die Atomenergie eine wichtige Rolle beim Umbau hin zu einer klimafreundlichen Wirtschaft spielen könne. Bei dem Treffen ging es folglich um die „Schlüsselrolle“, die der Kernenergie beim Erreichen des 1,5-Grad-Klimaziels zukomme, aber auch um ihr wirtschaftliches Gewicht.

Wachsende Allianzen pro Kernkraft

Gastgeber des Treffens in Brüssel waren Belgiens Regierungschef Alexander De Croo und IAEA-Direktor Raffael Grossi. Teilnehmer auf dem Gipfel und einem wissenschaftlichen Symposium kamen laut IAEA aus Ländern wie Argentinien, China, Indien, Pakistan, Südafrika und den USA.

Die Befürworter der Atomkraft haben ein weiteres gewichtiges Argument. Auch auf dem Weltklimagipfel der UNO im Vorjahr in Dubai (COP28) wurde Atomstrom quasi die Absolution erteilt und im Abschlussdokument Atomkraft in einem Zug mit erneuerbaren Energien genannt. Eine Allianz von über 20 Ländern sprach sich dafür aus, Kernkraft stark auszubauen, die Rede war sogar von einer Verdreifachung der Kapazitäten bis zum Jahr 2050.

In einer Erklärung war auch hier die Rede von einer Schlüsselrolle für die Reduktion der Treibhausgase auf null bis 2050 und das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels, dem maximalen Anstieg der Temperatur gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter. Zu den Unterzeichnern gehörten die großen Industriestaaten USA, Kanada, Großbritannien und Frankreich und etwa auch Finnland und Polen.

Ruf nach Geld aus EU-Budget

Am Donnerstag folgte ein Vorstoß der Atomkraftbefürworter in der EU, eine europäische Finanzierung der Technologie durchzusetzen. Atomkraftforschung sollte auf jeden Fall aus dem EU-Budget bezahlt werden – „vielleicht auch Atomprojekte“, sagte De Croo. „Ich glaube, das ist etwas, was möglich sein sollte.“ Kernkraft sorge für Energiesicherheit und könne „helfen, den Klimawandel zu bekämpfen“, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel bei dem Treffen.

Protestaktionen bei Kernenergietreffen

Am Rande des Kernenergietreffens in Brüssel haben Aktivistinnen und Aktivisten der Umweltorganisation Greepeace Protestaktionen abgehalten. Sie richteten sich gegen das Vorhaben mehrerer Länder, in Zukunft stärker auf Nuklearenergie zu setzen.

Priorität müsse sein, „aus Kohle und dann aus Gas auszusteigen und auf Atomkraft und erneuerbare Energien umzustellen“, sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Paris setzt sich seit Jahren für den Einsatz von Atomkraft in der EU ein, inzwischen hat sich hinter Frankreich eine Allianz pro Atomkraft aus 14 Staaten gebildet.

Weltweite Renaissance der Atomkraft

Neben Frankreich, das rund 65 Prozent seines Stroms aus Kernkraft bezieht, setzten lange vor allem osteuropäische Länder wie Tschechien, die Slowakei und Rumänien auf Atomenergie, auch Schweden, Belgien und die Niederlande gehören zu den Befürwortern. Österreich, Deutschland, Dänemark und weitere EU-Länder lehnen Atomkraft ab, wurden im EU-Rat allerdings mehrmals überstimmt, wenn es etwa um Förderungen für die Kraftwerke und neue nukleare Technologien ging.

Das deutsche Atomkraftwerk Nerckarwestheim
AP/Michael Probst
Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg war einer der drei letzten Reaktoren, die im Vorjahr in Deutschland abgeschaltet wurden

Frankreich will in den kommenden Jahren sechs neue Anlagen bauen, viele AKWs dort sind in die Jahre gekommen, in Schweden sind zwei neue Reaktoren bereits fest geplant. Die beiden Länder haben eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet, laut der sie beim Bau der Kraftwerke zusammenarbeiten wollen. Paris will damit auch die französische Industrie stärken, die Bauteile für die Reaktoren herstellt.

In Bulgarien, Finnland, den Niederlanden, Schweden, Rumänien, der Slowakei und Tschechien sind weitere Reaktoren geplant oder im Bau. Polen etwa produziert bisher keine Atomenergie, hat aber entsprechende Pläne für die Zukunft. Serbiens Präsident Aleksandar Vucic kündigte am Donnerstag an, sein Land wolle vier Reaktoren errichten. Außerhalb Europas setzen vor allem die USA, Japan (trotz der Katastrophe von Fukushima 2011), China, Russland, Indien und Länder wie Usbekistan, Ägypten und Argentinien auf Atomkraft.