Blick auf Kreml in Moskau
IMAGO/SuperStock/Victor Korchenko
Ukraine

Kreml spricht erstmals von „Krieg“

Über zwei Jahre dauert der Krieg in der Ukraine schon. Bisher war es für Russland eine „militärische Spezialoperation“. Am Freitag formulierte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow es erstmals anders: Seit der „gesamte Westen aufseiten der Ukraine beteiligt ist, ist es für uns ein Krieg geworden“. Für die Ukraine ist es schon lange ein Krieg, der auch in der Nacht auf Freitag seine Spuren hinterließ: Russland überzog das Land erneut mit Angriffen, auch das AKW Saporischschja war betroffen.

In einem Interview mit der russischen Wochenzeitung „Argumenty i Fakty“ sagte Peskow erstmals dezidiert: „Wir befinden uns im Kriegszustand. Davon bin ich überzeugt. Und das sollte jeder verstehen, aus innerer Mobilmachung.“ Russland könne nicht zulassen, dass an seinen Grenzen ein Staat existiere, der sich bereit gezeigt habe, mit allen Mitteln die Kontrolle über die Krim zu übernehmen. Als Kriegsziel nannte Peskow zudem die komplette „Befreiung“ der vier Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson, die das Land vor eineinhalb Jahren völkerrechtswidrig annektiert hatte.

Auf Nachfragen von Medien präzisierte der Kreml-Sprecher später, dass Russland zwar faktisch im Krieg sei, juristisch den Status der Kampfhandlungen aber beibehalten habe. „De jure ist es eine militärische Spezialoperation“, sagte er.

Kritik am Ukraine-Einsatz der russischen Armee und der Verwendung des Wortes „Krieg“ in diesem Zusammenhang werden in Russland mit Geld- und Gefängnisstrafen geahndet. Seit dem Beginn der Offensive wurden deshalb nach Angaben der Nichtregierungsorganisation OWD-Info mehr als 900 Strafverfahren eingeleitet. Peskow wies mit Blick auf die Strafverfahren jedoch darauf hin, dass es auf den Kontext ankomme, in dem der Begriff „Krieg“ verwendet werde.

Ukraine mit Angriffen überzogen

Das Interview erschien, nachdem Russland die Ukraine einmal mehr mit Angriffen überzogen hatte. In der Nacht auf Freitag herrschte in weiten Teilen des Landes erneut Luftalarm, zahlreiche Energieeinrichtungen wurden getroffen. Ins Visier gerieten praktisch alle Landesteile der Ukraine von Lwiw im Westen bis nach Donezk im Osten, von Charkiw und Sumy im Norden bis nach Odessa und Mykolajiw im Süden.

Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj setzte Russland in der Nacht fast 90 Raketen und 60 Schahed-Drohnen iranischer Bauart für den Angriff ein. „Die Welt erkennt die Ziele der russischen Terroristen absolut klar: Kraftwerke und Stromleitungen, der Damm eines Wasserkraftwerks, gewöhnliche Wohnhäuser und sogar ein Obus“, sagte er. Den Angehörigen der Opfer sprach er sein Beileid aus. Laut ukrainischen Angaben starben mindestens fünf Menschen, drei Menschen würden vermisst.

Grafik zur russischen Angriffswelle in der Ukraine
Grafik: APA/ORF

AKW-Betreiber warnt

In der Früh fiel nach einem Angriff die Hochspannungsleitung Dniprowskaja aus, wie die Führung des besetzten AKW Saporischschja auf Telegram mitteilte. Die Stromversorgung gewährleiste eine Ersatzleitung, Gefahr für die Sicherheit des AKW bestehe nicht, hieß es weiter. Die Situation sei aber gefährlich „und droht einen Notfall auszulösen“, erklärte der ukrainische Betreiber Enerhoatom. Wenn die letzte Stromleitung unterbrochen werde, stehe die Anlage „kurz vor einem erneuten Stromausfall, wodurch die Bedingungen für einen sicheren Betrieb ernsthaft verletzt werden“.

Das Atomkraftwerk in Saporischschja ist das größte Europas. Es war kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine von russischen Truppen besetzt worden, wird aber von ukrainischen Leitungen mit Strom versorgt. Wegen der Sicherheitsbedenken wurden die Reaktoren heruntergefahren, müssen aber weiter gekühlt werden.

Zerstörungen in Saporischschja nach russischem Angriff
Reuters/Ivan Fedoreov Via Telegram
Ein Drohnenbild zeigt die Zerstörungen in Saporischschja

Seit Kriegsbeginn gab es zahlreiche Stromausfälle in dem AKW, bei denen auf Notfallgeneratoren und Sicherheitssysteme zurückgegriffen wurde. „Sollten diese versagen, wird die Gefahr eines Reaktor- und Strahlenunfalls auftreten“, sagte Enerhoatom.

Damm getroffen

Einen Angriff gab es auch auf das Wasserkraftwerk und die dazugehörende Talsperre DniproHES am Saporischschja-Stausee. Laut ukrainischer Staatsanwaltschaft wurde der Staudamm achtmal getroffen. Es sei nur das Wasserkraftwerk selbst betroffen. Laut ukrainischen Angaben besteht jedoch kein Risiko eines Dammbruchs.

Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal betonte, dass die Lage im ukrainischen Energiesystem „grundsätzlich unter Kontrolle“ sei. Es gebe keine Notwendigkeit zur Aktivierung von Notfallplänen, sagte er nach Angaben der Nachrichtenagentur Ukrinform. An der Behebung der Schäden werde bereits gearbeitet.

„Das Ziel (der Angriffe) besteht nicht nur darin, das Energiesystem des Landes zu beschädigen, sondern wie im letzten Jahr erneut zu versuchen, einen großflächigen Ausfall herbeizuführen“, schrieb der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko auf Facebook. In mehreren Landesteilen kam es im Zuge der Angriffe zu größeren Stromausfällen. In Charkiw gab es etwa laut Bürgermeister Ihor Terechow 15 Explosionen, Ziel sei auch hier die Energieinfrastruktur gewesen.

Auch Anlagen des ukrainischen Energieversorgers Naftogas wurden laut dessen Angaben beschädigt. „Spezialisten arbeiten bereits daran, die Schäden zu beheben. Die Stromversorgung einiger betroffener Anlagen wurde bereits wiederhergestellt“, teilte Naftogas mit.

Angriffswelle auf Ukraine

Kiew spricht von 60 Drohnen und 90 Raketen, die Russland auf Ziele in der Ukraine abgefeuert hat. Die meisten seien abgeschossen worden – aber eben nicht alle.

Die russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur und andere zivile Einrichtungen wurden von Österreich scharf verurteilt. „Diese Angriffe sind gefährlich und verantwortungslos. Während Putin seinen Krieg fortsetzt, stehen wir weiterhin zur Ukraine“, teilte das Außenministerium am Freitag auf X (Twitter) mit.

Auch Ukraine flog Angriffe

Auch die Ukraine flog erneut Angriffe. Bei einer Attacke auf die russische Region Belgorod wurde nach Angaben des lokalen Gouverneurs ein Mensch getötet. Auch der Gouverneur der benachbarten Region Kursk, Roman Starowoit, berichtete über nächtlichen Beschuss.

In der grenznahen Ortschaft Tjotkina sei dabei eine Person verletzt worden. Auch dort habe es Sachschäden gegeben. Noch nicht bestätigt wurde eine von Medien gemeldete Bruchlandung eines Hubschraubers vom Typ Mi-8 in der Region Belgorod. Der Pilot habe verletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, berichtete das Internetportal Baza.

Auch die ukrainischen Streitkräfte hatten zuletzt verstärkt Energieanlagen auf russischem Territorium ins Visier genommen. Laut „Financial Times“ forderten die USA Kiew auf, keine russischen Raffinerien mehr anzugreifen. Das würde den Ölpreis in die Höhe treiben, hieß es unter Berufung auf Insider. „Wir verstehen die Forderungen der US-Partner, aber gleichzeitig kämpfen wir mit den Fähigkeiten, Ressourcen und Praktiken, die wir haben“, sagte Vizeministerpräsidentin Olha Stefanischyna in Kiew.