ultra-orthodoxe Juden in Jerusalem vor einem Hinweisschild auf ein Rekrutierungsbüro
Reuters/Ammar Awad
Streit über Wehrpflicht

Zerreißprobe in Israel abgeblasen

Premier Benjamin Netanjahu ist nicht nur außerhalb Israels unter Druck, auch innenpolitisch ist es eng – und das nicht nur wegen des Hamas-Überfalls auf Israsel, sondern weil nun ausgerechnet während des Krieges gegen die Hamas auch ein Uraltproblem der israelischen Innenpolitik akut geworden ist – nämlich die Frage der Wehrpflicht für orthodoxe Juden, die das Kriegskabinett zu sprengen droht. Die für Dienstag geplante Regierungssitzung dazu wurde in der Früh aber kurzfristig verschoben – auf wann, war unklar.

Der Oppositionspolitiker Benni Ganz war kurz nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober, bei dem rund 1.200 Menschen ermordet und Hunderte entführt wurden, dem Kriegskabinett beigetreten. In der Frage der Wehrpflicht für Orthodoxe vertritt er aber das säkular-liberale Lager, anders als die eigentliche Koalition von Regierungschef Netanjahu.

Ganz drohte bereits, das Kriegskabinett zu verlassen, sollte das Gesetz, das die Wehrdienstbefreiung der Orthodoxen prolongieren soll, verabschiedet werden. Damit stürzt zwar nicht die Regierung selbst, eine innenpolitische Krise wäre aber garantiert – und das mitten im Krieg und einer wachsenden Konfrontation mit dem wichtigsten Alliierten, den USA, über die Kriegsführung Israels in Gaza. Washington hatte Ganz’ Eintritt in das Kriegskabinett im Oktober befürwortet. Damit wurde vor allem die Öffnung einer zweiten Front – gegen die Hisbollah im Südlibanon – verhindert, die Verteidigungsminister Joav Galant wollte. Mit einem Austritt Ganz’ würde sich das angeschlagene Verhältnis zwischen Netanjahu und US-Präsident Joe Biden weiter verschlechtern.

Ministerium als Netanjahus Helfer

Offizieller Grund für die überraschende Verschiebung der Regierungssitzung war, dass das Finanzministerium in einer Stellungnahme die geplante Regelung in der Luft zerriss. Das kam Netanjahu, der bei innenpolitischen Problemen immer mit Zeitgewinn arbeitet, sehr entgegen – und dürfte auch kein Zufall sein, da das Finanzministerium von einem der wichtigsten Koalitionspartner Netanjahus geleitet wird.

Die Befreiung von der Wehrpflicht ist eines der umstrittensten und schmerzhaftesten Themen in der israelischen Gesellschaft. Die säkulare und traditionell religiöse Mehrheit der jüdischen Bevölkerung trägt gegenüber den Orthodoxen eine doppelte Last: Sie tragen allein die Last der Landesverteidigung und sie zahlen das Gros der Steuern. Orthodoxe leisten kaum Wehrdienst und sind zu einem sehr geringen Prozentsatz in den Arbeitsmarkt integriert.

Die meisten von ihnen leben von Subventionen – querfinanziert großteils mit den Steuern der säkularen Israelis. Zuletzt hatte ein hochrangiger Rabbiner noch mit der Aussage Öl ins Feuer gegossen, bevor ein Orthodoxer Wehrdienst leiste, werde man das Land verlassen.

Netanjahu stellte Pläne vor

Nicht nur der Gaza-Krieg, der das Problem schlagartig verschärfte, macht die Ausnahme nun schwer zu rechtfertigen, auch ein de facto gesetzloser Zustand zwingt zum Handeln. Das Gesetz, das diese Ausnahmen noch zuließ, lief im Vorjahr aus, auch eine Interimslösung endet. Das Höchstgericht hatte der Regierung bis Ende April eine Frist gesetzt, das weitere Vorgehen darzulegen.

Ganz drohte nun das Kriegskabinett zu verlassen, sollten die Orthodoxen weiterhin dem Wehrdienst entkommen. Ein von Netanjahu vorgelegter Vorschlag für die Neuregelung sieht erneut großzügige Ausnahmen vor.

Die Mitglieder des israelischen Kriegskabinetts, Benjamin Netanjahu, Yoav Gallant und Benny Gantz
APA/AFP/Abir Sultan
Netanjahu, Galant, Ganz: Seit dem Überfall der Hamas bilden sie gemeinsam das Kriegskabinett

So gebe es keine Quote für die Einberufung ultraorthodoxer Männer pro Jahr, wie israelische Medien berichteten. Stattdessen werde das Befreiungsalter vom Dienst auf 35 Jahre festgelegt. Damit, so Kritiker, würde sichergestellt, dass sich Ultrakonservative, die sich nicht zum Dienst melden, nicht bestraft werden. Denn sie konnten schon bisher der Einberufung entgehen, indem sie sich in Jeschivas für das Tora-Studium einschrieben und wiederholt einen einjährigen Dienstaufschub erhielten, bis sie alt genug waren, um nicht mehr eingezogen zu werden.

„Rote Linie“ für Ganz

Ganz bezeichnete diese Pläne als „rote Linie“. „Die Bevölkerung wird das nicht schlucken können, die Knesset wird nicht dafür stimmen können, und meine Kollegen und ich werden nicht in der Lage sein, Teil der Notstandsregierung zu sein, wenn ein solches Gesetz die Knesset verabschiedet“, so Ganz am Sonntagabend in einer Videobotschaft.

„Ich appelliere an die Likud-Minister und Mitglieder der Knesset, sich Gehör zu verschaffen“, forderte er und argumentierte, dass der Gesetzesentwurf einen „schwerwiegenden Werteverstoß“ darstelle, der zu erheblichen sozialen Spaltungen führen würde. „Wir werden nicht in der Lage sein, unseren Kämpfern innerhalb und außerhalb unserer Grenzen, von denen verlangt wird, ihren Dienst zu verlängern, in die Augen zu schauen.“

Tausende aus religiösen Gründen befreit

In Israel dauert die Wehrpflicht für Männer zweieinhalb Jahre, für Frauen zwei Jahre. Ausnahmen gibt es an sich wenige, nur Frauen dürfen etwa den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigern. Doch es gibt etliche Ausnahmen aus religiösen Gründen, auch die meisten arabischen Israelis dienen nicht im Militär. Auf die Wehrpflicht folgt zumeist ein Monat Reservedienst pro Jahr bis zu bestimmten Altersgrenzen.

Eine protestierende Frau zieht vor ultra-orthodoxen Juden vor einem Rekrutierungsbüro in Tel Aviv (Israel) ihr T-Shirt in die Höhe
APA/AFP/Jack Guez
In Israel gibt es wiederholt Proteste gegen und für die Wehrpflicht von Orthodoxen

Seit Beginn des Gaza-Krieges berief die Regierung rund 287.000 Reservistinnen und Reservisten ein, während im Vorjahr laut israelischen Streitkräften etwa 6.000 Ultraorthodoxe befreit wurden.

Angesichts der ablaufenden Frist haben in Israel längst die entsprechenden Interessengruppen ihre Stimmen erhoben. Wiederholt gab es Proteste für und wider die Wehrpflicht für alle.

Galant könnte ausscheren

Der Dritte im Bunde, Verteidigungsminister Galant, könnte zu einem Ausgleich zwischen Ganz und Netanjahu beitragen. Galant sagte, er könne kein Gesetz unterstützen, das ohne die breite Zustimmung aller Koalitionsparteien verabschiedet werde. Eine Einigung bei der Wehrpflicht sei „wesentlich für die Existenz und den Erfolg der Streitkräfte“, es müsse ein Kompromiss gefunden werden. „Ich appelliere erneut an den Premierminister und Minister Ganz, die Zeit zu nutzen und einen breiten Konsens in der Frage des Wehrpflichtgesetzes zum Nutzen der Streitkräfte und des Staates Israel zu erzielen.“

Am Dienstag sollte das Kriegskabinett zum Thema tagen, auch eine Abstimmung über Netanjahus Entwurf stand an. Wann das nun passiert, ist völlig unklar. Ohnehin gilt: Bis ein neues Gesetz tatsächlich in Kraft tritt, dürfte es dauern. Denn Netanjahu will seinen Vorschlag erst kurz vor der Sommerpause der Knesset in den Gesetzwerdungsprozess schicken, wie israelische Medien berichteten – um somit Zeit zu gewinnen.