Istiklal Street in Istanbul
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Regionalwahlen in Türkei

Istanbul als Gradmesser für Erdogans Macht

Am Sonntag bestimmen die Türken und Türkinnen ihre politische Führung auf Regionalebene neu. Die letzten Regionalwahlen 2019 endeten für die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan schmerzlich, die größten Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir haben seither Bürgermeister der oppositionellen CHP. Die Vorzeichen sind dieses Mal andere: Die Opposition ist nicht mehr geeint, Erdogan wild entschlossen, Istanbul zurückzuerobern.

Die Bosporus-Metropole steht aus mehreren Gründen im Mittelpunkt der Wahlen. Dass mit Ekrem Imamoglu seit 2019 dort ein CHP-Mann Oberbürgermeister ist, kränkt Erdogan persönlich, begann seine politische Karriere in den 1990er Jahren doch genau in diesem Amt. Zudem ist Istanbul durch seine schiere Größe bedeutend: 16 Millionen Menschen und damit etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung der Türkei leben dort. Ein großer Teil des türkischen Bruttoinlandsprodukts wird in der Stadt erwirtschaftet, die Verwaltung hat ein größeres Budget als die meisten Ministerien in Ankara.

Für Erdogan bietet sich jetzt eine Chance für die Rückeroberung der Metropole, die bis zu der vorherigen Kommunalwahl 25 Jahre von seiner AKP regiert wurde. Die Opposition ist zerrüttet und hat sich nicht von der verlorenen Präsidentschafts- und Parlamentswahl im vergangenen Jahr erholt. Im Jahr 2019 war Imamoglu noch von der kurdischen HDP und der rechtsnationalen IYI-Partei unterstützt worden, um die AKP in Istanbul zu stürzen.

Recep Tayyip Erdogan
Reuters/Dilara Senkaya
Imamoglu möchte weiter das Sagen in Istanbul haben

Zersplitterte Opposition

Diesen Sonntag aber treten die drei großen Oppositionsparteien nicht mit einer gemeinsamen Plattform an, sondern mit ihren eigenen Kandidaten und Kandidatinnen. Da die Bürgermeister mit nur einfacher Mehrheit gewählt werden und es nicht zur Stichwahl kommt, nützt eine zersplitterte Opposition vor allem der AKP. Die Kurden könnten nach Einschätzung von Fachleuten das Zünglein an der Waage werden. Zwar schickt auch die prokurdische Partei DEM – die Nachfolgepartei der HDP – in Istanbul mit Meral Danis Bestas ihre eigene Kandidatin ins Rennen, doch liegt sie in Umfragen weit abgeschlagen.

Viele Anhänger und Anhängerinnen der kurdischen Partei erwägen daher, Amtsinhaber Imamoglu zu wählen und so die AKP auszubremsen. Denn Erdogans Regierung geht seit dem Scheitern des Friedensprozesses zur Beendigung des jahrzehntelangen Aufstands der verbotenen PKK 2015 hart gegen kurdische Parteien vor. Allerdings bekam Erdogan in diesem Wahlkampf auch Konkurrenz im eigenen Lager: Die islamistische YRP (Neue Wohlfahrtspartei) hatte 2023 noch die AKP unterstützt, tritt nun aber durchwegs mit eigenen Kandidaten an.

Murat Kurum
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Murat Kurum agiert im Wahlkampf aus Sicht vieler als Strohmann des Präsidenten

Für die AKP geht in Istanbul der vielfach als farbloser Technokrat bezeichnete Murat Kurum ins Rennen, der 2023 als Minister für Umwelt, Stadtplanung und Klimawandel agierte. Nach dem verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei im Februar vergangenen Jahres machte sich der Bauingenieur einen Namen durch seinen Einsatz bei der Schaffung von Notunterkünften. Gleichzeitig wird ihm angelastet, dass unter seiner Ägide nicht erdbebensicher konstruierte Gebäude in einer Bauamnestie legalisiert wurden – und damit die Bebenkatastrophe noch verschlimmert wurde.

Erdogans angeblich „letzte Wahl“

So war die Wahlkampagne der AKP auch nicht auf Kurum, sondern ganz auf den Präsidenten zugeschnitten: Auf fast allen Plakaten war Erdogan präsent, er eilte von einer Wahlkampfveranstaltung zur nächsten. Traut man seinen Aussagen, ist das Erdogans letzter Wahlkampf. „Mit der Autorität, die mir das Gesetz verleiht, werden diese Wahlen meine letzten Wahlen sein“, sagte Erdogan Anfang März. Den Ausgang der Wahl beschrieb er als sein politisches Vermächtnis: „Das Ergebnis wird die Übergabe der Verantwortung an meine Brüder sein, die nach mir kommen.“

Doch ähnliche Äußerungen hat man von Erdogan, der die Türkei seit mehr als 20 Jahren regiert, zuerst als Ministerpräsident, dann als Staatspräsident, schon mehrfach gehört. Nicht nur die Opposition wittert dahinter den Versuch, Wähler und Wählerinnen für Sonntag zu mobilisieren. Es wird spekuliert, dass er versuchen könnte, Mehrheiten für eine Verfassungsänderung oder aber eine vorgezogene Neuwahl zu organisieren, um ein Weiterregieren möglich zu machen.

Recep Tayyip Erdogan
IMAGO/Shady Alassar
Erdogans Amtszeit endet 2028, ob er danach wirklich abtritt, steht in den Sternen

Bedeutung für künftigen Kurs der Türkei

In Imamoglu ist Erdogan jedenfalls ein Gegner erwachsen, „der wie eine jüngere und frischere Version seiner selbst wirkt“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“). Er gilt als begnadeter Wahlkämpfer, als Populist, der es allen recht zu machen weiß. Allerdings schwebt ein Damoklesschwert über Istanbuls Bürgermeister: 2022 wurde er wegen Beleidigung von Mitgliedern der staatlichen Wahlkommission zu einer Haftstrafe verurteilt. Ein konstruierter Vorwurf, der allerdings ein politisches Betätigungsverbot nach sich ziehen könnte. Der Fall wird derzeit in der nächsten Instanz verhandelt.

Der Kampf um Istanbul, darin sind sich politische Kommentatorinnen und Kommentatoren weitgehend einig, hat große Bedeutung für den künftigen Kurs der Türkei. „Eine Wiederwahl Imamoglus würde diesen zum unangefochtenen Spitzenkandidaten der Opposition für die Präsidentenwahl 2028 machen“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“). Die „SZ“ zog den Umkehrschluss: „Verliert er, wird Erdogan die Türkei weiter nach seinen Vorstellungen formen. Hin zu einem Land, in dem Wahlen keine große Bedeutung mehr haben.“