Ein israelischer Soldat mit Artilleriemunition
APA/AFP/Jack Guez
Gaza-Krieg

Israels Problem mit Munition

Nicht nur die Ukraine, auch Israel hat angesichts des seit rund einem halben Jahr andauernden Krieges gegen die Hamas in Gaza zunehmend ein Problem mit der Munitionsversorgung. Israel griff deshalb laut „Haaretz“ bereits auf Munition aus jahrzehntealten Beständen zurück. Nicht zufällig traf Verteidigungsminister Joav Galant am Dienstag trotz der zunehmend angespannten bilateralen Beziehungen seinen US-Kollegen Lloyd Austin.

In dem gemeinsamen Gespräch habe Austin betont, dass die USA und Israel eine „moralische Verpflichtung“ dazu hätten, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu schützen, teilte das Pentagon nach dem Treffen mit. Es gebe auch ein „strategisches Interesse“ daran.

Austin habe Galant aufgefordert, die Zugangsmöglichkeiten für humanitäre Hilfe zu erweitern und die Verteilungsprobleme innerhalb des Gazastreifens anzugehen. Der US-Verteidigungsminister habe außerdem deutlich gemacht, „dass die Vereinigten Staaten weiterhin bestrebt sind, alle regionalen Akteure davon abzuhalten, den Konflikt über den Gazastreifen hinaus auszunutzen oder auszuweiten“.

Mangel an Artilleriegeschoßen

Tatsächlich dürfte bei dem Treffen eine andere Frage im Zentrum gestanden sein – nämlich jene nach der militärischen Hilfe für Israel, insbesondere der Belieferung mit dringend benötigter Munition. Teils mangelt es der israelischen Armee an genau der gleichen Munition wie der Ukraine, insbesondere an Artilleriegeschoßen der gleichen Größe, die auch die Ukraine braucht, und die in der NATO üblich sind.

Doch genau hier gibt es bei der Produktion seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine vor mehr als zwei Jahren einen zunehmend kritischen Engpass. Die Produktion war weitgehend zurückgefahren – praktisch kein NATO-Szenario sah für die Kriegsführung im 21. Jahrhundert noch größeren Einsatz von Artillerie und Panzern vor. Doch sowohl in der Ukraine als auch in Gaza – und an der Nebenfront im Norden zum Libanon mit der Terrorgruppe Hisbollah – sind genau diese Waffengattungen von zentraler Bedeutung.

Gleiches Kaliber wie Ukraine

Alle israelischen Haubitzen verwenden laut „Haaretz“ Kaliber 155 mm, wie es auch bei der NATO Standard ist. Genau dieses Kaliber verwendet zu einem großen Teil auch die ukrainische Armee. Der Preis für die Geschoße vervierfachte sich laut „Haaretz“ seit dem russischen Überfall. Die USA planen, die Produktion heuer auf 80.000 Stück pro Monat zu erhöhen. Allerdings brauche allein die Ukraine 200.000 pro Monat. Die 155-mm-Geschoße sind ein wesentlicher Teil der laufenden Militärlieferungen der USA an Israel nach dem 7. Oktober.

Zerstörtes Gebäude in Rafah
Reuters/Mohammed Salem
Palästinenser in einem durch israelischen Beschuss zerstörten Gebäude in Rafah

„Prähistorische Geräte“

Das Problem betrifft vor allem die Milizeinheiten, die mit älteren Geschützen kämpfen – nicht zuletzt, weil sie auf diese trainiert sind. Mittlerweile sind Milizeinheiten nur noch an der Grenze zum Libanon im Einsatz. Bei den Haubitzen dieser Einheiten handelt sich um mehrere Generationen des Modells M109, das seit 1963 im Einsatz ist. Die Recherche von „Haaretz“ fußt auf den Aussagen einiger Milizsoldaten, die in Gaza und an der Grenze zum Libanon im Einsatz waren.

Einer schilderte, dass zu Beginn seines Einsatzes gegen die Hisbollah die Hälfte der Geräte, mit denen sie an die Front geschickt wurden, gar nicht funktioniert habe. Das seien teils „prähistorische Geräte“.

Vorrückende Soldaten getäuscht

Ein in Gaza stationierter Milizoffizier schilderte, Vorgesetzte hätten ihn angewiesen, sie sollten der vorrückenden Einheit, die sie mit ihrem Feuer unterstützten, sagen, sie hätten so viele Granaten abgefeuert, wie von ihnen angefordert – tatsächlich aber sollten sie ein Drittel oder Viertel weniger abschießen. Der Offizier erläuterte gegenüber „Haaretz“, dass das Vertrauen zwischen den Soldaten, die vorrücken und Ziele auswählen, und den Artillerieschützen entscheidend sei. Plötzlich habe man sich in der Situation befunden, dass man ihnen nicht die Wahrheit gesagt habe.

Chaotischer Munitionsnachschub

Teilweise habe tagelang Munition gefehlt, die während des Vorrückens von Truppen als Absicherung zum Einsatz komme. Weil man hier gespart habe, hätte man in einigen Fällen schließlich sogar mehr Munition gebraucht – um nämlich in schwere Kämpfe verwickelte Truppen aus der Kampfzone herausholen zu können.

Der Munitionsnachschub sei teils chaotisch gewesen. Manchmal sei tagelang nichts gekommen, und die Munition sei teils nicht einsatzfähig gewesen. Teils seien es Geschoße mit unterschiedlichen Reichweiten oder aus verschiedenen Produktionsreihen gewesen. Auch wenn es die gleiche Munition ist, aber eine andere Produktionsreihe, müsse jede einzelne Haubitze neu kalibriert werden, wofür es zwei bis drei Geschoße brauche.

Bei einer Einheit von 15 Haubitzen, müsse man Dutzende Geschoße sinnlos ins freie Feld feuern. Das habe dazu geführt, dass man während des Kampfes ständig Munition zwischen den einzelnen Haubitzen hin und her transportieren habe müssen. Da die Reichweite der Munition teils unterschiedlich war, habe man die Haubitzen zudem immer wieder um mehrere Kilometer verrücken müssen. An ein solches Chaos konnten sich demzufolge auch Soldaten, die bereits im zweiten Libanon-Krieg 2006 gekämpft hatten, nicht erinnern.

„Geschoßroulette“ mit Uraltmunition

Höhepunkt des „Geschoßroulettes“, wie es „Haaretz“ nannte, sei die Verwendung von Munition gewesen, deren Sprengstoff rund 70 Jahre alt sei. Diese hätte nicht nur enorm viel Rauch entwickelt und sei weniger treffgenau, sondern hätte auch die Haubitzenrohre viel stärker abgenützt, als das bei normaler Munition der Fall ist.

Ein israelisches Artilleriegeschütz wird abgefeuert
APA/AFP/Menahem Kahana
Milizsoldaten berichten von teils gravierenden Nachschubproblemen

Rüsten für mehrere Szenarien

Israel muss sich auch die Munition betreffend für mehrere Szenarien rüsten: Monatelang weiter Krieg wie bisher – also großer Mitteleinsatz in Gaza und, wenn auch deutlich weniger, im täglichen begrenzten Schlagabtausch mit der Hisbollah im Norden. Zweites Szenario ist eine Eskalation mit der Hisbollah mit einem Einmarsch im Südlibanon. Auch für das dritte, derzeit unwahrscheinliche, Szenario will Israel gerüstet sein: ein Vielfrontenkrieg, also etwa auch eine direkte Konfrontation mit Syrien und verstärkte Raketenangriffe etwa der Huthis.

Neu aufgeflammt ist auch die Debatte über eine falsche strategische Ausrichtung der Armee in den letzten Jahren. Ähnlich wie die NATO war auch Israels Generalstab vor allem von hybrider Kriegsführung ausgegangen, und es wurde bei Artillerie- und Panzereinheiten teils stark eingespart.

Gefahr auf viele Jahre

In Zukunft dürfte die eingesetzte Munition zusätzlich Probleme aufwerfen: Noch nie wurde auf und in Gaza so viel Munition abgefeuert – darunter wohl auch viele Blindgänger. Diese werden, auch wenn die andauernde humanitäre Katastrophe einmal beendet sein wird, für die Menschen in Gaza auf viele Jahre eine Gefahr darstellen. Aber wohl auch für Israel: Denn laut israelischen Militärexperten waren Blindgänger bereits bisher eine wichtige „Rohstoffquelle“ für die Terrorgruppe Hamas, um ihre Katjuscha-Raketen zu produzieren.