Ausgebranntes Auto auf offener Straße in Nordisrael
Reuters/Carlos Garcia Rawlins
Israel – Libanon

Eine Grenze als „No-Go-Zone“

Am Tag nach dem Überfall der Terrorgruppe Hamas auf Israel am 7. Oktober hat auch die proiranische Terrormiliz Hisbollah begonnen, Israel vom Libanon aus anzugreifen. Praktisch täglich gibt es gegenseitigen Beschuss, zuletzt wurde am Samstag eine Fahrzeug der UNO zum Ziel. Der Konflikt wird von beiden Seiten bisher begrenzt geführt, aber mit der ständigen Gefahr einer Eskalation zu einem regionalen Krieg. Längst ist das gesamte Grenzgebiet zu einer „No-Go-Zone“ für die Zivilbevölkerung geworden. Zehntausende Menschen auf beiden Seiten mussten fliehen.

Im Kampf gegen die Hisbollah griff Israels Luftwaffe am Freitag auch Ziele bei der nordsyrischen Stadt Aleppo an. Und zuletzt nahmen israelische Kampfpiloten auch wieder Übungsflüge für Angriffe tief im Landesinneren des Libanon auf. Teheran und seine Stellvertreter, allen voran die Hisbollah, haben sich in weiten Teilen Syriens festgesetzt und nicht zuletzt eine Nachschubroute für Waffen aufgebaut.

Am Samstag wurde laut libanesischen Angaben ein Fahrzeug der UNO-Mission für den Libanon (UNIFIL) Ziel eines Drohnenangriffs. Dieser soll von Israel aus erfolgt sein. Drei Soldaten und ein Übersetzer seien verletzt worden, hieß es. Die UNO verurteilte den Angriff.

Unter dem Schock des Überfalls der Hamas auf die nahe dem Gazastreifen gelegenen Orte und Städte beschloss die israelische Regierung kurz nach dem 7. Oktober, im Norden alle Städte und Orte entlang der rund 130 Kilometer langen Grenze zu evakuieren. Konkret betraf das mehr als 30 Orte, die maximal zwei Kilometer von der Grenze entfernt sind. Dort befinden sich – neben mehreren Kleinstädten – vor allem Kibbuzim und Moschavim (genossenschaftlich organisierte Siedlungen, deren Güter sich teils in Kollektiv-, teils in Privateigentum befinden) mit großteils landwirtschaftlicher Produktion. Die Wiederholung des beispiellosen Massakers nahe Gaza an der libanesischen Grenze sollte um jeden Preis vermieden werden.

Einsatzkräfte in Hebbariye
AP/Mohammad Zaatari
Rettungskräfte suchen nach Überlebenden in einer Rettungsstation nach einem israelischen Luftangriff im Südlibanon

Mehr als 150.000 Menschen wurden in Sicherheit gebracht bzw. flüchteten im Grenzgebiet aus ihren Häusern und Wohnungen. Auf israelischer Seite waren es bisher rund 60.000, auf libanesischer Seite etwa 90.000. Auf israelischer Seite befinden sich in dem Grenzstreifen großteils nur noch Militär, das mitten in den Orten stationiert ist, und Verteidigungsgruppen, die aus Bewohnern zusammengesetzt sind. Die „New York Times“ sprach jüngst von einer regelrechten „No-Go-Zone“.

Im Libanon oft allein auf sich gestellt

Auf libanesischer Seite gab es keine geordnete Evakuierung, aber viele Bewohnerinnen und Bewohner versuchten, sich in Sicherheit zu bringen und in behelfsmäßigen Hilfslagern oder bei Verwandten unterzukommen. Der Libanon befindet sich seit Jahren ohnehin in einer schweren Staats- und Wirtschaftskrise. Hilfe vom Staat für die Geflüchteten gibt es praktisch keine.

Wann die aktuellen militärischen Auseinandersetzungen beendet werden, ist unklar. Die Hisbollah hat angekündigt, eine Waffenruhe bzw. einen Waffenstillstand, die die Hamas mit Israel vereinbart, ihrerseits auch einzuhalten.

Doch die Verhandlungen darüber kommen seit Monaten kaum vom Fleck. Nach anscheinenden Fortschritten kam bisher immer gleich der Rückschlag. Zuletzt weigerte sich die Hamas vor wenigen Tagen, über ein Angebot zu verhandeln, das die Vermittler USA, Ägypten und Katar zuvor Israel abgerungen hatten.

Mann steht vor von Raketenangriff beschädigten Gebäude in Kiryat Shmona
APA/AFP/Jalaa Marey
Ein Israeli vor einem Haus in Kirjat Schmona nach einer Serie von Raketenangriffen der Hisbollah

Leben in völliger Ungewissheit

Die Geflüchteten leben derweil in völliger Ungewissheit. Tausende Kinder auf beiden Seiten der Grenze haben entweder gar keinen Unterricht oder nur improvisierten. In Israel wurden jene, die in Hotels untergebracht wurden, dort teils wieder ausquartiert, weil die Zimmer für Gäste gebraucht werden. Die Stimmung unter denen, die seit Monaten nicht in ihre Wohnungen zurückkehren können, schwankt zwischen Resignation über die Ungewissheit und Empörung – vor allem über die Regierung.

Viele Landwirte fahren, soweit möglich, täglich zu ihren Farmen, um zu arbeiten. Schon die Anreise ist mühsam und die Gefahr, von einem Heckenschützen der Hisbollah getroffen zu werden, groß. Umgekehrt greift die israelische Armee immer wieder auch tief im Landesinneren an – nach eigenen Aussagen militärische Ziele der Hisbollah, laut libanesischen Angaben werden auch immer wieder zivile Ziele getroffen.

Ruf nach Einmarsch

Die israelischen Bewohner der Nordgrenze fordern eine dauerhafte Lösung. Viele meinen damit einen Einmarsch mit Bodentruppen in den Südlibanon und die Schaffung eines Sicherheitsstreifens, also eine Besetzung libanesischen Territoriums bis zum Fluss Litani, der nördlich von Tyros am Mittelmeer quer nach Osten bis zur syrischen Grenze fließt. Tyros liegt etwa 25 Kilometer nördlich der Grenze, an anderen Stellen ist der Fluss nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt.

1978 war Israel nach einem Terrorattentat mit Dutzenden Toten in Tel Aviv in den Südlibanon bis zum Litani einmarschiert und zwang Jahre später die PLO-Führung mit Jassir Arafat an der Spitze zur Flucht nach Tunis. Auch mussten Zehntausende Libanesinnen und Libanesen vor den Kämpfen flüchten. Der letzte Krieg mit israelischem Einmarsch in den Libanon folgte 2006, ausgelöst durch die Entführung israelischer Soldaten durch die Hisbollah.

Sorge vor regionalem Krieg mit Iran

Israels Verteidigungsminister Joav Gallant hatte bereits kurz nach dem Hamas-Massaker einen umfassenden präventiven Militärschlag gegen die Hisbollah im Norden gefordert. Dagegen opponierten aber vor allem die USA. Deren Präsident Joe Biden befürchtet, dass ein regelrechter Krieg im Süden des Libanon sich rasch zu einem unkontrollierten regionalen Konflikt, in den auch die USA selbst und der Iran direkt involviert werden, auswächst. Das hätte unabsehbare sicherheitspolitische Folgen – und nicht zuletzt würde es den Ölpreis rasant in die Höhe treiben und damit Bidens Wiederwahlchancen im November schwer beschädigen.

Auch in Israel sind die Positionen – abgesehen davon, dass das Land auf US-Unterstützung angewiesen ist – gespalten. Einige Experten warnen davor, dass Israel derzeit gar nicht die Kapazität habe, einen echten Zweifrontenkrieg zu führen.

USA suchen diplomatische Deeskalation

Es ist kein Zufall, dass der US-Sondergesandte für den Libanon, Amos Hochstein, sich in den letzten Monaten immer wieder in der Region aufhält. Er arbeitet – gemeinsam mit Frankreich – an einem diplomatischen Vorschlag. Ziel ist ein Rückzug der Hisbollah-Kämpfer Richtung Norden auf die in der UNO-Resolution 1701 beschlossene Linie. Freilich ist unklar, wie die Hisbollah aktuell dazu gebracht werden soll, einer solchen Vereinbarung zuzustimmen.

Die Resolution 1701 beendete den Krieg zwischen der Hisbollah und Israel 2006, der in arabischen Ländern als Juli-Krieg, in Israel als Zweiter Libanonkrieg bezeichnet wird. Israel zog sich aus dem Libanon zurück, das Gebiet zwischen der Linie und der Grenze sollte nur von der libanesischen Armee und Truppen der United Nations Interim Force in Lebanon (UNIFIL) betreten werden. Die Resolution sah auch eine Entwaffnung der Hisbollah vor, die freilich nie stattfand.