Polizisten in Moskau
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Russland

Terror legt innere Widersprüche offen

Vor einer Woche haben Terroristen in einer Konzerthalle bei Moskau über 140 Menschen ermordet. Die Tat legt Russlands Widersprüche zwischen der „offiziellen Erzählung“ von Präsident Wladimir Putin und Entwicklungen in der Gesellschaft offen, sagt Osteuropa-Experte Matthäus Wehowski zu ORF.at. Die „Vernichtungsrhetorik“ der Politik hätte sich „ins Extreme gesteigert“, so der Historiker, die öffentliche Zurschaustellung der offensichtlich gefolterten Terrorverdächtigen sei daher nicht verwunderlich.

Seit dem Terroranschlag – dem schwersten auf russischem Boden seit 20 Jahren – zeigt Russlands Staatsführung mit dem Finger auf die Ukraine und den Westen. Hintermänner der Tat in der Crocus-Konzerthalle hätten Geld aus dem Nachbarland erhalten, hieß es am Donnerstag aus Moskau.

In den vergangenen Tagen hatte Moskau Kiew wiederholt die Unterstützung der Terroristen vorgeworfen: „Wir glauben, dass die Aktion sowohl von den radikalen Islamisten selbst als auch von westlichen Geheimdiensten vorbereitet wurde“, sagte der Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes (FSB), Alexander Bortnikow. Die ukrainischen Dienste seien „unmittelbar involviert“ gewesen.

Lukaschenko widerspricht Putin

Schon kurz nach dem Angriff hatte sich ein Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Afghanistan, der IS Khorasan (IS-K), zur Tat bekannt und Aufnahmen der Attentäter in der Konzerthalle veröffentlicht. Putin gestand am Montag schließlich ein, dass Islamisten für die Attacke verantwortlich sind. Zugleich erklärte er, die Terroristen seien in der Ukraine, gegen die Russland seit mehr als zwei Jahren einen Angriffskrieg führt, erwartet worden. Belege für die Behauptungen legten weder Bortnikow noch Putin vor.

Einsatzautos vor brennender Crocus City Hall in Moskau
IMAGO/SNA/Evgeny Biyatov
Beim Anschlag auf die Crocus-Konzerthalle sind mehr als 140 Menschen gestorben

Putins Darstellung widersprach ausgerechnet ein enger Verbündeter Moskaus, der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko. Die Männer hätten zunächst nach Belarus fliehen wollen, seien aber wegen der Grenzkontrollpunkte umgekehrt, erklärte der Langzeitherrscher.

Putins „Propagandaerzählung“

Putins „Strategie“ hinter den Vorwürfen gegen Kiew und den Westen reiht sich für den Historiker Wehowski vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden in eine bereits seit Jahren gepflegte „Propagandaerzählung“ ein. „So ziemlich alles, was Russland negativ betrifft, wird dem Westen und der Ukraine vorgeworfen“, sagt er.

Auffällig ist aus seiner Sicht aber die „Diskrepanz zwischen dem, was Putin über Russland verbreitet, und dem, was tatsächlich passiert“. Nach Putins Darstellung spiele es keine Rolle, „ob man tatarische, jüdische, orthodoxe oder muslimische Vorfahren hat“, sagt Wehowski. Alle seien Teil „dieser russischen Welt, in der es keinen Nationalismus, keinen Rassismus und keine religiösen Konflikte gibt“. Rassismus sei etwas, „das nur im Westen existiert“.

Tatsächlich sehen sich gerade Menschen aus dem Kaukasus und den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien seit Jahren mit Alltagsrassismus und Diskriminierung konfrontiert. In letzter Zeit etablieren sich Wehowski zufolge verstärkt paramilitärische, rechtsextremistische Organisationen, die Jagd auf Mitglieder der vom Staat verbotenen LGBTQ-Gemeinschaft und muslimische Migrantinnen und Migranten machten.

Hassverbrechen gegen Tadschiken

In den Fokus gerückt ist zuletzt die tadschikische Community in Russland. Die vier Terrorverdächtigen stammen allesamt aus der ehemaligen Sowjetrepublik. Der Radiosender Voice of America (VoA) berichtete am Donnerstag unter Berufung auf NGOs von einer Zunahme von Hassverbrechen gegen Menschen aus Tadschikistan.

Offiziellen Angaben zufolge lebten 2023 etwa 1,3 Mio. Tadschikinnen und Tadschiken in Russland. Ihre tatsächliche Zahl dürfte aber weitaus größer sein. Menschen aus Tadschikistan benötigen kein Visum für die Einreise, viele verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit Saisonarbeit. Zudem erhielten Zehntausende Tadschikinnen und Tadschiken in den letzten Jahren die russische Staatsbürgerschaft.

Russlands Regierung versuche, Schritte gegen das „wachsende Konfliktpotenzial zwischen Muslimen und Orthodoxen“ zu unternehmen, sagt Wehowski. „Der zunehmende Islamismus in einigen Regionen lässt sich aber nicht verheimlichen“, so der Osteuropa-Experte. Die Diskriminierungserfahrungen in Russland hätten das Potenzial, Menschen aus Zentralasien für die Rekrutierung durch dschihadistische Organisationen anfälliger zu machen.

„Versagen“ der Sicherheitskräfte

Wenig war von der russischen Staatsspitze bisher zur Rolle der Sicherheitskräfte in der Anschlagsnacht zu hören. Erst über eine Stunde nach Beginn des Terrorangriffs waren Spezialkräfte an Ort und Stelle, berichteten russische Medien. Die Terroristen waren zu diesem Zeitpunkt längst auf der Flucht.

In sozialen Netzwerken nährt das Verschwörungstheorien, wonach die russischen Geheimdienste aktiv in den Angriff involviert gewesen seien oder diesen zumindest geschehen ließen. Wehowski hält ein „Versagen der Ordnungskräfte“ für wahrscheinlicher. „Primäre Funktion“ des russischen Sicherheitsapparates sei der „Machterhalt der herrschenden Eliten“. Entsprechend häufig in den Organisationen zu finden seien „unfähige Bürokraten, die über Verbindungen und Korruption an die Macht gekommen sind“.

Zurschaustellung von Gefolterten

Im Umgang mit den Terrorverdächtigen zeigt der Staat Härte – und Brutalität. Verschiedene Politiker forderten die Wiedereinführung der Todesstrafe. Bereits kurz nach der Festnahme der vier Männer kursierten Videos von Folterungen und Verstümmelungen. Bei ihrer ersten Anhörung vor Gericht wiesen sie deutliche Misshandlungsspuren auf.

Terrorverdächtiger vor Gericht in Moskau
AP/Alexander Zemlianichenko
Terrorverdächtiger vor Moskauer Gericht

Die Verbreitung der Foltervideos dürfte von offizieller Stelle abgenickt worden sein. „Rache“ und „Abschreckung“ seien die Motive hinter der Veröffentlichung gewesen, sagte die Menschenrechtsaktivistin Olga Sadowska der „New York Times“. Die öffentliche Zurschaustellung der Gefolterten zeige, wie sehr sich Russlands Gesellschaft seit Beginn der Ukraine-Invasion militarisiert habe und Gewalt toleriert werde.

„Vernichtungsrhetorik“

Die „Gewaltkultur“ in Russland gehe auf den von Putin gern zitierten Philosophen Iwan Iljin (1883–1954) zurück, sagt Wehowski. „Gegenüber dem, was als das Böse erachtet wird, darf es keine Rücksicht geben“, sei eine zentrale Idee Iljins gewesen. In Talkshows im russischen Staats-TV hätte sich diese Art von Gewaltfantasien bereits vor dem russischen Einmarsch im Nachbarland Bahn gebrochen.

Durch den Krieg habe sich „diese Vernichtungsrhetorik mittlerweile ins Extreme gesteigert. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass Folter angewandt wird“, so der Historiker. Für den Krieg rekrutierte Russlands Armee auch in Gefängnissen. Selbst verurteilte Gewalttäter wurden nach sechs Monaten begnadigt, sofern sie sich einschrieben. Die Praxis wurde laut BBC erst vor Kurzem geändert.

Vladimir Putin vor Soldaten
Reuters/Sputnik/Sergei Karpukhin
Präsident Wladimir Putin mit russischen Soldaten: Für die Staatsführung sind die Kriegsheimkehrer die neue Elite

Offizielle Hilfsangebote für traumatisierte Kriegsheimkehrer gibt es nicht. Dafür preist Russlands Staatsführung die Veteranen als neue Elite. Welche Folgen die staatliche Legitimierung der Gewalt haben wird, sei noch nicht abschätzbar, sagt Wehowski. „Das, was wir mit Tschetschenien- und Afghanistan-Veteranen erlebt haben, könnte sich aber deutlich verschlimmern.“

In Russland stieg die Mordrate von 2021 auf 2022 um vier Prozent. Im Vorjahr wurden landesweit insgesamt 589.000 Gewaltverbrechen gemeldet – so viele wie zuletzt 2011. Deutlich gestiegen seit Beginn der Invasion ist der Alkoholkonsum: 2023 wurden 2,3 Mrd. Liter Spirituosen verkauft. Ähnliche Werte wurden zuletzt Mitte der 1970er und 80er Jahre in der Sowjetunion verzeichnet.