Hilfslieferung der NGO World Central Kitchen wird von Arbeitern betrachtet
AP/World Central Kitchen
Tödlicher Luftschlag

Hilfsorganisationen stoppen Einsatz in Gaza

Nachdem bei einem Luftschlag des israelischen Militärs im Gazastreifen sieben Mitarbeiter von World Central Kitchen (WCK) getötet worden sind, pausieren oder stoppen zunehmend mehr Hilfsorganisationen ihren Einsatz in der Region. Was vor allem die ohnehin schon schwer getroffene Zivilbevölkerung im Gazastreifen stark treffen würde, lässt gleichzeitig auch den Druck auf Israel und sein Vorgehen in der Region steigen.

Angesichts des tödlichen Vorfalls will die Organisation WCK ihren Einsatz in der Region sofort stoppen und bald Entscheidungen „über die Zukunft unserer Arbeit treffen“. Aber auch andere Hilfsorganisationen haben ihre Tätigkeit im Gazastreifen aus Sicherheitsgründen vorerst eingestellt bzw. wollen die Situation evaluieren.

Die Hilfsorganisation ANERA, die Flüchtlingen im Nahen Osten hilft, und auch die in den USA ansässige Organisation Project Hope, die sich auf die Gesundheitsfürsorge konzentriert, kündigten an, ihre Arbeit zum Schutz ihrer Mitarbeiter einzustellen. ANERA bezeichnete die Entscheidung als „beispiellosen Schritt“ und erklärte, dass „eine sichere Lieferung von Hilfsgütern nicht mehr möglich ist“.

„Jeder fühlt sich jetzt bedroht“

„Jeder fühlt sich jetzt bedroht“, zitierte die „New York Times“ am Dienstag (Ortszeit) Michael Capponi, den Gründer der Hilfsorganisation Global Empowerment Mission. Es müsse der internationalen Gemeinschaft von Nichtregierungsorganisationen „garantiert werden, dass wir bei unserer Arbeit, die so wichtig ist, sicher sind“, forderte Capponi.

Auch der in Großbritannien ansässigen Hilfsorganisation Medical Aid for Palestinians zufolge gibt es in Gaza „keinen sicheren Ort, egal ob man Palästinenser, Brite oder anderer Nationalität“ sei. „Der Gazastreifen ist derzeit einer der gefährlichsten Orte der Welt, um als Entwicklungshelfer tätig zu sein“, hieß es in einer Erklärung.

WCK: Einsatz mit Armee koordiniert

„Das WCK-Team war in einer konfliktfreien Zone in zwei gepanzerten Fahrzeugen mit dem WCK-Logo und einem ungeschützten Fahrzeug unterwegs“, schrieb die Hilfsorganisation. Der Konvoi sei getroffen worden, obwohl man die Fahrt mit der israelischen Armee koordiniert habe. Die Helfer hätten gerade ein Lagerhaus in der Ortschaft Deir al-Balah im zentralen Abschnitt des Gazastreifens verlassen, als sie beschossen worden seien.

Dort hätten sie mehr als 100 Tonnen humanitärer Lebensmittelhilfe entladen, die auf dem Seeweg in den Gazastreifen gebracht worden sei. Die sieben Opfer stammten laut der Mitteilung von WCK aus Australien, Polen, Großbritannien und den Palästinensergebieten – zudem habe eines der Opfer die amerikanische und kanadische Staatsbürgerschaft.

UN-Arbeiter untersuchen das zerstörte Auto
APA/AFP
Durch einen israelischen Angriff starben sieben Mitarbeiter einer Hilfsorganisation

Zeitung: Terrorverdacht als Auslöser

Der Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Deutschland, Christian Katzer, sagte, die Arbeit im Gazastreifen sei im Moment extrem gefährlich: „Angriffe auf humanitäre Helfer müssen sofort aufhören“. Was am Montag passiert sei, sei „natürlich extrem erschreckend und bitter. Es ist aber leider nicht das erste Mal, dass wir Angriffe auf humanitäre Helfer sehen“, sagte Katzer. „Wir bei Ärzten ohne Grenzen müssen leider auch Kollegen und Kolleginnen betrauern.“

Der israelischen Zeitung „Haaretz“ zufolge ging der Angriff auf einen Terrorverdacht zurück. Die Streitkräfte hätten den Hilfskonvoi wegen der Vermutung attackiert, ein Terrorist sei mit diesem unterwegs gewesen, berichtete das Blatt unter Berufung auf nicht näher genannte Verteidigungsbeamte. Die an dem Vorfall beteiligten Akteure hätten gegen Anweisungen und Regeln gehandelt, berichtete die Zeitung weiter unter Berufung auf Militärkreise.

Netanjahu: „Unbeabsichtigt getroffen“

Generalstabschef Herzi Halevi nannte den Tod der Helfer „einen schweren Fehler“ und drückte in der Nacht auf Mittwoch sein Bedauern aus. Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari sagte am Dienstag, Israels Armee sei an internationales Recht gebunden: „Wir sind verpflichtet, unsere Einsätze gründlich und transparent zu untersuchen.“

Auch Israels Präsident Isaac Herzog sprach den Angehörigen sein Beileid aus. Regierungschef Benjamin Netanjahu sprach von einem „tragischen Zwischenfall“, bei dem das israelische Militär „unbeabsichtigt unschuldige Menschen im Gazastreifen“ getroffen habe. Seine Regierung stehe mit den Regierungen der betroffenen Menschen in Kontakt und werde „alles tun, damit so etwas nicht noch einmal passiert“.

„WSJ“: Mechanismus versagt

In komplexen Konfliktgebieten wie dem Gazastreifen teilten die Vereinten Nationen und andere Hilfsorganisationen den Kriegsparteien freiwillig die Koordinaten ihrer Büros, Lagerhäuser und anderer Einrichtungen mit, um zu vermeiden, dass sie versehentlich getroffen werden, schrieb das „Wall Street Journal“ („WSJ“).

Einsätze im nördlichen Gazastreifen, der als besonders risikoreich gilt, müssten von der für die Koordinierung von Hilfe zuständigen israelischen Militärbehörde COGAT genehmigt werden. Die meisten Anträge würden abgelehnt. Dennoch seien bereits mehrfach Hilfskonvois in Gaza angegriffen worden, hieß es. Es sei nicht klar, warum der sogenannte „Deconfliction“-Mechanismus wiederholt versagt habe, um die Sicherheit der Helfer zu gewährleisten, schrieb die US-Zeitung weiter.

Biden: „Kein Einzelfall“

Das internationale Entsetzen nach dem Luftschlag war groß. US-Präsident Joe Biden zeigte sich „empört und untröstlich“. Er warf Israel mit scharfen Worten vor, die Zivilbevölkerung zu wenig zu schützen. Das sei „kein Einzelfall“, so Biden. Er forderte eine zügige Untersuchung und eine Veröffentlichung der Ergebnisse.

„Mehr als 200 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wurden in diesem Konflikt getötet, der damit zu einem der schlimmsten Konflikte für Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in der jüngeren Geschichte zählt“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats in den USA, John Kirby. „Dieser Vorfall steht sinnbildlich für ein größeres Problem und ist Beweis dafür, warum die Verteilung von Hilfsgütern im Gazastreifen so schwierig ist.“

Aufklärung gefordert

Auch EU-Chefdiplomat Josep Borrell verurteilte den Luftangriff. Der Außenbeauftragte der EU würdigte die getöteten NGO-Mitarbeiter und drängte ebenfalls auf eine Untersuchung. Appelle, den tödlichen Angriff zu untersuchen, kamen auch vom britischen Premierminister Rishi Sunak. Die Lage sei zunehmend „intolerabel“. Spaniens Regierungschef Pedro Sanchez kritisierte Netanjahus Reaktion auf den Angriff als „unzureichend“: „Wir warten auf eine viel detailliertere Klärung der Ursachen.“

Für den polnischen Regierungschef Donald Tusk stellt der „tragische Angriff“ auf humanitäre Helfer sowie die öffentliche Reaktion der israelischen Regierung die Solidarität mit Israel „auf eine harte Probe“. Das Außenministerium in Warschau bestellte zudem den israelischen Botschafter in Polen ein, um über die „neue Situation“ und die „moralische, politische und finanzielle Verantwortung“ nach dem Vorfall zu sprechen.

Das österreichische Außenministerium forderte ebenfalls eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls und den ungehinderten Zugang von Helfern zum umkämpften Küstenstreifen. „Das Leben von Zivilisten und die humanitären Helfer müssen zu allen Zeiten beschützt werden.“ Die UNO prangerte eine „Missachtung“ des Schutzes für die Helfer im Gazastreifen an.