Ukrainischer Rekrut während Übung
Reuters/Viacheslav Ratynskyi
Ukraine

Auftrieb durch mehr Rekruten erhofft

Die Ukraine hofft im Krieg gegen Russland mit der Rekrutierung neuer Soldaten auf Auftrieb. Das Rekrutierungsalter wurde deshalb nun um zwei Jahre herabgesetzt, wie am Mittwoch bekanntwurde. Laut einem hochrangigen ukrainischen Offizier ist die militärische Lage mehr als angespannt. Russland bereitet sich offenbar auf eine Offensive vor – wo genau es versuchen wird, die Hunderte Kilometer lange Front zu durchbrechen, und daher Verstärkungen notwendig sind, bereitet dem ukrainischen Militär indes Kopfzerbrechen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stimmte nun nach langem Zögern zu, dass Reservisten bereits ab einem Alter von 25 Jahren eingezogen werden können. Bisher waren es 27 Jahre. Am Dienstag wurde der entsprechende Eintrag auf der Parlamentsseite veröffentlicht. Selenskyj hatte sich vor der Entscheidung neun Monate Bedenkzeit genommen.

Die Regierung hat nach der noch ausstehenden Publikation der Novelle im Amtsblatt ein halbes Jahr Zeit, diese umzusetzen. Ausgehend von den Geburtenziffern Ende der 1990er Jahre können dann theoretisch gut 400.000 weitere Männer für den Kriegsdienst gegen Russland eingezogen werden. Parallel dazu wird für nächste Woche weiterhin der Beschluss von verschärften Mobilmachungsregeln erwartet.

Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj
IMAGO/APAimages/President Of Ukraine
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj

Selenskyj unterzeichnete außerdem ein Gesetz zu einer Anpassung von Tauglichkeitskriterien für den Armeedienst. Zukünftig gebe es nur noch „tauglich“ und „untauglich“. Vormals als „bedingt tauglich“ eingestufte Männer müssen erneut bei der Musterungskommission vorstellig werden.

Einschätzung von russischer Offensive äußerst schwierig

Unterdessen schlagen hochrangige ukrainische Offiziere in „Politico“ Alarm und zeichnen ein düsteres Bild der Lage für die Ukraine. Die Offiziere dienten alle unter dem im Februar als Oberbefehlshaber abgelösten General Walerij Saluschnyj.

Im Wesentlichen hänge jetzt alles davon ab, wo Russland seine Stärke in einer Offensive einsetzen werde, so ein nicht namentlich genannter Offizier in „Politico“. Die Offensive werde voraussichtlich im Sommer beginnen.

Ukrainischer Rekrut während Übung
Reuters/Viacheslav Ratynskyi
Ein ukrainischer Rekrut bei einer Übung

Im Vorfeld dieser Offensive – die Hunderte Kilometer lange Front erstreckt sich von Charkiw und Sumy im Norden bis nach Odessa im Süden – nahmen laut diesen Angaben die russischen Raketen- und Drohnenangriffe in den letzten Wochen stark zu und zielten auf die Infrastruktur – hier nicht zuletzt auf die Energieversorgung. Dieses Vorgehen mache eine Einschätzung der Ukraine, wo es zu dem größten Vorstoß kommen werde, äußerst schwierig.

„Risiko des Zusammenbruchs“ der Front

Die Offiziere sagten weiters in „Politico“, es bestehe ein großes Risiko eines Zusammenbruchs der Front bei der russischen Offensive. Russland werde dank seiner großen zahlenmäßigen Überlegenheit und gelenkter Fliegerbomben, die seit Wochen ukrainische Stellungen zerstörten, wahrscheinlich in der Lage sein, „in die Front einzudringen und sie in einigen Teilen zum Einsturz zu bringen“.

Das Fazit der nicht namentlich genannten Offiziere in „Politico“ ist wenig positiv. Es gebe nichts, was der Ukraine jetzt helfen könnte, da es keine Technologien gebe, die einen Ausgleich für die riesigen russischen Truppenmassen herstellen könnte, die Moskau an die Front bringt, so die ukrainischen Militärs zu „Politico“.

Eigener Waffenbau soll Abhängigkeit reduzieren

Kiew braucht auch dringend Munition und Waffen, wie Selenskyj nicht müde wird, von seinen westlichen Partnern zu fordern. Kiew will indes auch eigene Waffen bauen, um die Abhängigkeit vom Westen langsam reduzieren zu können. Doch ob die Zeit dafür reicht, ist unklar, wie die „New York Times“ („NYT“) am Dienstag schrieb.

Ukrainische Soldaten bereiten Panzer auf Feuern vor
AP/Efrem Lukatsky
Ukrainische Soldaten bereiten einen Panzer zum Abfeuern vor

Derzeit baut die ukrainische Rüstungsindustrie jeden Monat acht Bohdana-Artilleriesysteme, so die „NYT“. Die Zeit drängt auch hier, denn laut der US-Zeitung vervierfachte Russland bereits seine Waffenproduktion für den Krieg gegen die Ukraine und das US-Hilfspaket liegt noch immer beim republikanisch dominierten Repräsentantenhaus. Präsident Joe Biden drängt darauf, das militärische und finanzielle Hilfspaket endlich zu billigen.

Suche nach finanziellen Mitteln

Allein im letzten Jahr haben die ukrainischen Verteidigungsunternehmen dreimal so viele gepanzerte Fahrzeuge gebaut wie vor dem Krieg und auch die Produktion von Panzerabwehrraketen vervierfacht, so die „NYT“. Die Zeitung beruft sich dabei auf von ihr überprüfte ukrainische Regierungsdokumente.

Entscheidend für die ukrainische Waffenproduktion ist allerdings auch hier der Einsatz größerer finanzieller Mittel – ob aus der Ukraine selbst oder von westlichen Partnern.

Ukraine senkt Alter für Einberufung

Während sich in Russland laut russischen Angaben viele freiwillig für den Militärdienst melden, hat die Ukraine ein Rekrutierungsproblem. Das Alter für die Einberufung wurde daher von 27 auf 25 Jahre gesenkt.

Moskau: 403 Quadratkilometer seit Jahresanfang erobert

In Russland versucht man indes die mageren Geländegewinne als Erfolg zu verbuchen. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu drängte die russische Armee bei ihrem Angriffskrieg die „ukrainischen Verbände nach Westen zurück“. Laut russischen Medien sagte Schoigu bei einem Treffen von Kommandanten, die russischen Streitkräfte hätten seit Jahresanfang 403 Quadratkilometer Territorium erobert. Das würde in etwa der Fläche Wiens entsprechen. Im März habe man die Kontrolle über fünf Städte und Dörfer in der Ostukraine erlangt.

Russischer Verteidigungsminister Sergej Schoigu
APA/AFP/Alexander Kazakov
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu

Der ukrainische Präsident Selenskyj bestritt die Aussagen Schoigus in seiner allabendlichen Videoansprache. Die Nachrichtenagentur Reuters konnte die Berichte beider Seiten über die militärische Situation nicht unabhängig überprüfen.

Frühjahrsrekrutierung in Russland

Auch Russland rekrutiert. Das die Ukraine überfallende Land zieht seit Montag, dem 1. April, wie immer im Frühjahr rund 150.000 Wehrpflichtige zum Grundwehrdienst ein. Ein entsprechender Erlass von Kreml-Chef Wladimir Putin wurde am Sonntag in Moskau veröffentlicht. Die Soldaten würden regulär zum zwölfmonatigen Grundwehrdienst einberufen, aber nicht im Kriegsgebiet in der Ukraine eingesetzt, hatte das russische Verteidigungsministerium vorher mitgeteilt.

Laut Dekret sollen bis zum 15. Juli 150.000 Soldaten im Alter zwischen 18 und 30 Jahren eingezogen werden. In Russland gibt es zweimal im Jahr – im Frühjahr und im Herbst – solche regulären Einberufungswellen.

Druck zu Kriegsdienst in Ukraine

Auch das Verteidigungsministerium in Moskau veröffentlichte das Dokument, das zugleich die Entlassung jener vorsieht, die den Grundwehrdienst absolviert haben. Die ausgebildeten Soldaten können sich aber etwa auch zum Kriegsdienst in der Ukraine verpflichten. Beobachter gehen davon aus, dass der Druck innerhalb der Truppe groß ist, einen solchen Vertrag zu unterzeichnen.

Spekuliert wird seit Tagen außerdem darüber, ob eine weitere Mobilmachung von Reservisten für den Krieg in der Ukraine geplant sein könnte. Für das Erreichen seiner Kriegsziele dürfte Putin deutlich mehr Personal brauchen und könnte nun nach seiner Wiederwahl noch eine Mobilmachung veranlassen.