Auslöser des Gaza-Kriegs war ein Massaker, das Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober in Israel begingen. Dabei brachten sie rund 1.160 Menschen brutal um und verschleppten mehr als 250 Geiseln. Israel reagierte mit Luftangriffen und einer Bodenoffensive. Ziel ist es, die Geiseln zu befreien und die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen zu zerschlagen.
Der Preis dafür ist hoch: Seit Monaten werden Wohnblöcke, Schulen und Spitäler in Schutt und Asche gelegt – in bzw. unter den Gebäuden vermutet die Armee Hamas-Kämpfer. Knapp 100 Geiseln befinden sich weiter in den Händen islamistischer Gruppen.
Auf palästinensischer Seite sind laut der von der Hamas kontrollierten Gaza-Gesundheitsbehörde seit Kriegsbeginn fast 33.000 Menschen getötet worden – viele davon Frauen und Kinder. Ein Großteil der mehr als zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Küstenstreifens hat kein Dach über dem Kopf und leidet unter Hunger. Dazu kommen enorme Zerstörungen, die die katastrophale humanitäre Lage befeuern – sowie Auseinandersetzungen im Westjordanland.
NGO: Krieg wird „ohne Regeln“ geführt
Von Hilfsorganisationen regnet es Kritik. „Dieses Muster von Angriffen ist entweder vorsätzlich oder ein Zeichen von rücksichtsloser Inkompetenz“, sagte der Generalsekretär von Ärzte ohne Grenzen International, Christopher Lockyear, am Donnerstag. „Es zeigt nicht nur, dass Maßnahmen zur Entschärfung (des Konflikts) versagen, sondern auch die Sinnlosigkeit dieser Maßnahmen in einem Krieg, der ohne Regeln geführt wird.“
Die Arbeitsbedingungen seien anders als alles, „was wir je erlebt haben“, sagte Amber Alayyan, stellvertretende Programmleiterin für Nahost von Ärzte ohne Grenzen Paris. „Wir sehen jetzt Schusswunden bei Kindern, die von Quadcoptern stammen – die im Grunde Drohnen mit Waffen sind. Wir sehen eine alarmierende Anzahl von Infektionskrankheiten oder Ausbrüchen von Hepatitis.“
Massaker am 7. Oktober „in Vergessenheit geraten“
Der Gaza-Krieg sei beispiellos in der Geschichte, sagte Professor Kobi Michael vom israelischen Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS). Es sei ein außergewöhnlich langer Krieg in einem Gebiet mit extrem hoher Bevölkerungsdichte – gegen eine Terrororganisation, die über Jahre ihre militärischen Fähigkeiten ausgebaut habe. Dazu komme das unterirdische Tunnelnetzwerk, das den Kampf gegen die Hamas erschwere.
Unter rein militärischen Gesichtspunkten sieht Michael zwar „beeindruckende Errungenschaften“ der israelischen Armee im Kampf gegen die Hamas. Mit Blick auf die Sicht der internationalen Gemeinschaft auf den Konflikt habe die Hamas jedoch einen klaren Vorteil. „Das Massaker vom 7. Oktober ist schnell in Vergessenheit geraten, stattdessen konzentriert sich das Mitleid auf die palästinensische Zivilbevölkerung.“
Vom Internationalen Gerichtshof (IGH) wurde Israel auf Südafrikas Bestreben hin im Jänner aufgefordert, einen Völkermord im Gazastreifen zu verhindern. Ende März forderte der UNO-Sicherheitsrat in einer Resolution erstmals eine „sofortige Waffenruhe“ in Gaza. Diese wurde durch die Enthaltung der Vetomacht USA möglich gemacht.
Netanjahus Verhältnis zu Biden zerrüttet
Zu Beginn hatte sich US-Präsident Joe Biden noch demonstrativ an Israels Seite gestellt. Unter dem Eindruck der hohen Zahl ziviler Opfer im Gazastreifen verschlechterte sich sein Verhältnis zum 74-jährigen Netanjahu jedoch. Nach einer deutlichen Warnung aus den USA beschloss Israel diese Woche „sofortige Schritte“ zur Erhöhung humanitärer Hilfe für die Zivilbevölkerung.
Israel sei in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen zu „Putin und Russland geworden, die Bösen in der Geschichte“, sagte Professor Eitan Gilboa von der Bar-Ilan-Universität bei Tel Aviv. Für Entrüstung sorgte zuletzt ein israelischer Luftangriff, bei dem sieben Mitarbeiter der NGO World Central Kitchen (WCK) ums Leben gekommen waren. Zwei Offiziere wurden Tage später entlassen. Über 180 humanitäre Helfer sind laut UNO seit Beginn des Krieges getötet worden.
Wachsender Unmut in Israel
„Es ist vorbei für Bibi“, ist der Politologe Emmanuel Navon sicher. Angezählt ist „Bibi“ Netanjahu, gegen den seit Jahren ein Korruptionsprozess läuft, schon länger. Auch in Israel selbst wächst der Unmut – allerdings nicht in Zusammenhang mit der Kriegsführung, sondern mit den zähen Verhandlungen über einen Geiseldeal. In israelischen und internationalen Medien wird vom Schicksal einstiger Geiseln – darunter sexuelle Gewalt gegen Frauen – berichtet: Viele von ihnen beschreiben die Zeit im Gazastreifen als „Hölle“.
Immer wieder finden Demonstrationen für ein Abkommen zur Freilassung der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln statt. Seit Wochen vermitteln die USA, Katar und Ägypten zwischen Israel und der Hamas, um eine Feuerpause und einen Austausch aus Israel verschleppter Geiseln gegen palästinensische Häftlinge zu erreichen.
Auch die Rufe nach Neuwahlen nehmen zu: Neuwahlen fordern nicht nur Demonstrierende, sondern auch der in Umfragen führende Oppositionelle Benni Ganz. Die Regierung werde so lange weitermachen, bis alle Kriegsziele erreicht seien, teilte hingegen Netanjahus Likud-Partei mit. Ein Ende der Gefechte ist nicht in Sicht, die Gefahr eines Flächenbrands in der Region besteht. Seit Kriegsbeginn ist Israel auch Angriffen der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah und der Huthi-Rebellen im Jemen ausgesetzt.
Kein Plan für „den Tag danach“
Auch eine Vision für die Zeit nach dem Krieg gibt es nicht: Netanjahu lehnt bisher jeglichen Plan für „den Tag danach“ ab, der eine Übergabe der Macht im Gazastreifen in palästinensische Hände vorsähe. Nach Einschätzung des israelischen Politologen Jonathan Rynhold mache Netanjahu seinen Verbündeten das Leben schwer, indem er keinen Plan präsentiere, „von dem auch die Palästinenser profitieren könnten“.
Professor Michael meinte, eine regionale Vereinbarung mit arabischen Staaten wie Saudi-Arabien und Ägypten könne längerfristig den Weg bereiten für einen Wiederaufbau des Gazastreifens mit Ausblick auf eine palästinensische Staatlichkeit. Das sei jedoch nur mit einer tiefgehenden Reform der palästinensischen Autonomiebehörde und einem radikalen Wandel innerhalb der palästinensischen Gesellschaft denkbar.
Die Hamas sei tief in der Bevölkerung des Gazastreifens verwurzelt, so Michael. Eine große Mehrheit von 71 Prozent der Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland unterstützen den Überfall am 7. Oktober laut einer Umfrage in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung. 59 Prozent waren überzeugt, dass die Hamas auch nach dem Krieg im Gazastreifen herrschen wird, und unterstützten das. Elf Prozent sprachen sich dafür aus, dass die Palästinenserbehörde unter Mahmud Abbas die Kontrolle übernimmt.