EGMR Präsidentin Siofra O’Leary
Reuters/Christian Hartmann
Präzedenzfall

EGMR verurteilt Schweiz wegen Klimapolitik

Klimaschützerinnen und -schützer haben mit einer ersten Klage für schärfere Maßnahmen gegen den Klimawandel vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Erfolg gehabt: In einem wegweisenden Urteil wurde die Schweiz wegen mangelnden Klimaschutzes verurteilt. Zwei weitere Klimaklagen, eine aus Frankreich und eine aus Portugal, wurden dagegen abgelehnt.

Die Richterinnen und Richter gaben einer Gruppe Schweizer Seniorinnen recht, die ihrer Regierung vorwerfen, nicht genug gegen den Klimawandel zu tun. Konkret heißt es: Das Land verletze Artikel 8 („Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“) der europäischen Menschenrechtskonvention, wie die Richterinnen und Richter mit 16 zu einer Stimme festhielten.

Die Schweizer Behörden hätten es versäumt, rechtzeitig und angemessen auf den Klimawandel zu reagieren, heißt es in einer Aussendung des EGMR. Zudem hätten die Klägerinnen nicht ausreichend die Möglichkeit gehabt, vor nationalen Gerichten zu klagen.

Die über 2.000 Schweizer Frauen machten, unterstützt durch medizinische Gutachten, eine besondere Benachteiligung geltend: das höhere Alter, das sie den Folgen der Klimaerwärmung stärker aussetzt, beispielsweise wegen extremer Hitzewellen. Dem Ziel ihrer Klage, nämlich dass die Schweiz mehr unternimmt, um den Anstieg der Temperatur auf 1,5 Grad zu beschränken, wurde somit stattgegeben.

Statement der schweizer Kläger nach Urteil des EGMR
Reuters/Christian Hartmann
Der mangelnde Klimaschutz der Schweiz habe die klagenden Seniorinnen in ihren Menschenrechten verletzt, so die Begründung des Urteils

Klimaklagen aus Frankreich und Portugal abgelehnt

Am gleichen Tag wurden auch zwei weitere Urteile im Zusammenhang mit Klimaschutz besprochen: Die Klimaklage des ehemaligen Bürgermeisters Damien Careme eines französischen Küstenortes wies das Gericht in Straßburg am Dienstag hingegen zurück. Dem französischen Politiker fehle die Opfereigenschaft, also dass er besonders betroffen sei, so die Richter, da er nicht mehr in Frankreich lebe. Er verlangte von seiner Regierung ebenso wirksamere Maßnahmen gegen die Erderwärmung.

Auch die Klage von sechs portugiesischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde abgelehnt, da die Kläger den Gerichtsweg in ihrem Heimatland nicht ausgeschöpft hätten, hieß es zur Begründung.

Die Jugendlichen argumentierten, dass ihre Menschenrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben sind, durch die Folgen des Klimawandels verletzt werden – zum Beispiel durch verheerende Waldbrände. Und sie fühlten sich besonders benachteiligt, weil die Politik den Ausstoß von Schadstoffen, der die Erwärmung verursacht und beschleunigt, nicht energischer beschränkt – und damit ihre Lebensaussichten nachhaltig beeinträchtigt.

Klimaaktivisten vor dem EGMR
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Auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg unterstützte die Klage der portugiesischen Jugendlichen

Klimaschutz als Menschenrecht?

Es war das erste Mal, dass das Gericht Urteile zum Klimawandel fällte und sich mit der Frage befasste, inwiefern Klimaschutz ein Menschenrecht ist. Die Straßburger Urteile könnten nach Ansicht von Experten und Expertinnen im Vorfeld der Entscheidungen ein Wendepunkt im Kampf gegen den Klimawandel sein. Denn durch die Urteile könnten Regierungen zu einer ehrgeizigeren Klimapolitik gezwungen werden.

Das Urteil an sich bindet zwar erst einmal nur die Schweiz, hat aber große Signalwirkung. Denn: Der EGMR gehört zum Europarat und ist für die Einhaltung der Menschenrechtskonvention zuständig. Zum Europarat zählen die EU-Staaten, aber auch andere große Länder wie die Türkei und Großbritannien. Das Urteil könnte nun also ein Präzedenzfall für weitere Klimaklagen nicht nur vor dem EGMR, sondern vor unzähligen nationalen Gerichten werden.

Schweizer Justiz: Urteil muss umgesetzt werden

Die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd äußerte sich in einer ersten Reaktion überrascht von dem EGMR-Urteil, seien der Schweiz Nachhaltigkeit, Biodiversität und das Netto-null-Ziel doch „sehr wichtig“. Daher sei sie gespannt, die Details des Urteils zu lesen, und werde danach eine Stellungnahme abgeben, sagte die christdemokratische Politikerin auf eine Frage der APA.

Laut dem Schweizer Justizministerium, das die Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof vertritt, sei das Urteil endgültig und müsse umgesetzt werden. „Zusammen mit den betroffenen Behörden werden wir nun das umfangreiche Urteil analysieren und prüfen, welche Maßnahmen die Schweiz für die Zukunft ergreifen muss“, erklärte die Behörde.

Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) forderte nach dem Klimaurteil den Austritt aus dem Europarat. „Die SVP verurteilt diese Einmischung fremder Richter aufs Schärfste.“ Das Urteil sei eine „dreiste Einmischung in die Schweizer Politik“.

„Historischer Tag“

Bei Greenpeace spricht man indes von einem „historischen Tag für den Klimaschutz“. Das Gericht habe die Bedrohung der Menschenrechte durch die Klimakrise erkannt und sage, dass die Schweizer Gerichte sich nicht genug damit beschäftigt hätten. „Das ist ein wichtiger Schritt im Kampf für mehr Klimaschutz in Europa“, so Jasmin Duregger, Klima- und Energieexpertin bei Greenpeace in Österreich. Seitens des WWF heißt es: „Die Staaten haben mit dem Pariser Klimavertrag umfassenden Klimaschutz vereinbart, aber bisher großteils nicht geliefert.“ Auch Österreich sei daher gefordert und sollte die richtigen Lehren aus der Verurteilung der Schweiz ziehen.

Die Anwältin der Schweizer Klimaseniorinnen, Cordelia Bähr, sagte: „Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat damit festgestellt, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist. Das ist ein immenser Sieg für uns und ein Präzedenzfall für sämtliche Staaten des Europarates“, fügte sie hinzu. Man werde seitens der Aktivistinnen nun genau darauf achten, dass die Schweiz ihren Verpflichtungen nachkomme.