Zerstörtes Wohnhaus in Charkiw
picturedesk.com/Roman Pilipey
Ernste Lage

Charkiw trotzt russischen Attacken

Die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw steht fast täglich unter Beschuss der russischen Armee. Die Lage der rund 1,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern der grenznahen Metropole verschärft sich zusätzlich, da Russland gezielt die Energieinfrastruktur in der Region angreift. Die Befürchtung in der Bevölkerung geht um, dass die Stadt einer der Hauptangriffspunkte einer möglichen Sommeroffensive der russischen Armee ist. Für den Kreml ist Charkiw ein wichtiges Symbol, doch die Stadt trotzt den russischen Attacken.

Bereits zu Kriegsbeginn wollte Russland die Stadt einnehmen. In den ersten Monaten der großangelegten russischen Invasion zogen Moskaus Truppen durch die Region Charkiw, bevor im Herbst 2022 eine Blitzoffensive der Ukraine die russischen Truppen wieder zurückdrängte. Seitdem blieb der Osten der Region Frontgebiet, oft unter Bombardierung, wie das US-Magazin „Newsweek“ in seiner jüngsten Ausgabe schreibt.

Auch laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj misst der Kreml der Stadt eine hohe Bedeutung zu. Für Präsident Wladimir Putin sei sie ein großes Symbol, so Selenskyj im Interview mit mehreren deutschen Zeitungen, darunter „Bild“, am Mittwoch. „Charkiw ist eine der Hauptstädte der Ukraine, deshalb hat es eine große symbolische Bedeutung“, so Selenkskyj weiter. Die Ukraine sei bereit, Russlands Eroberungspläne zu vereiteln. Die Verteidigung der Stadt werde ausgebaut. „Wir machen alles, um das nicht zuzulassen“, so Selenskyj weiter.

Zerstörtes Elektrizitätswerk in Charkiw
Reuters/Vyacheslav Madiyevskyy
Zerstörte Elektrizitätsinfrastruktur in Charkiw

Bürgermeister: Situation extrem ernst

Die Lage in der Stadt ist durch den starken Beschuss auch der im Umland gelegenen Infrastruktur allerdings alles andere als rosig. Laut dem Bürgermeister der Stadt, Ihor Terechow, ist die Situation extrem ernst, wie er im Interview mit dem „Kurier“ am Donnerstag sagte. Vor allem die Energieversorgung bereitet durch die Zerstörung durch die russische Armee große Probleme. Mehrmals ist dadurch auch die Stromversorgung für 24 Stunden ausgefallen.

Man repariere, was man reparieren könne. Es sei aber nicht möglich, alles zu reparieren, so Terechow. In den vergangenen Tagen sei die Situation besser geworden, Haushalte hätten bis zu sieben, acht Stunden am Tag Strom gehabt. Nun würden die Menschen pro Tag zwei, drei Stunden Strom zur Verfügung haben, so Terechow laut „Kurier“.

Der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow
picturedesk.com/Roman Pilipey
Der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow

„Gigantischer Bedarf an Stromgeneratoren“

Von größter Bedeutung sei eine funktionierende Luftverteidigung. Diese sei wichtig auch für die Energieversorgung. „Ohne Luftverteidigung können wir die kritische Infrastruktur wie etwa die Umspannwerke nicht schützen“, so der Charkiwer Bürgermeister weiter. Die Stadt habe „einen gigantischen Bedarf an Stromgeneratoren – aber derzeit keine Möglichkeit, die benötigte Anzahl zu bekommen“.

In Sachen russische Bodenoffensive im Raum Charkiw gab sich Terechow im „Kurier“ skeptisch. Man kenne diese Gerüchte, diese würden vor allem von russischen Medien verbreitet. Es sei nicht wichtig, ob es diese Pläne tatsächlich gibt. Das Wichtigste sei, dass „wir Charkiwer weiterhin für unsere Stadt stehen, sie verteidigen – und für sie kämpfen“, so Terechow. Er lobte auch das Militär, das die Stadt verteidigt.

ISW: Russland will sich neu positionieren

Der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) hält eine russische Bodenoperation gegen Charkiw in naher Zukunft für unwahrscheinlich, wie die US-Denkfabrik am Mittwoch mitteilte. Das ISW sieht allerdings „russische Bemühungen, strategische Reserven zu schaffen und Truppen im Einsatzgebiet neu zu positionieren“, wie es weiter hieß.

Ukraine: Russlands neue Offensive

Russland bombardiert die Ukraine erneut im großen Stil. Wieder ist die Infrastruktur im Visier.

Diese Vorbereitungen können den russischen Truppen allerdings ermöglichen, im Sommer eine Offensive in Richtung der Stadt zu starten. Die drohende Gefahr einer Offensive würde dann die Ukraine wahrscheinlich dazu zwingen, ihre begrenzten Ressourcen für den Bau neuer Befestigungen in dem Gebiet umzuverteilen, so das ISW weiter.

Allerdings könne Russland immer noch eine Offensive an jedem Abschnitt der Front starten, so die US-Denkfabrik. Ein derartiges Vorgehen könnte „die bereits erschöpften Ressourcen der Ukraine weiter belasten“. Auch unabhängig davon, ob es einer Operation gelinge, tatsächlich eine Zielstadt oder Siedlung einzunehmen, heißt es weiter.

Zerstörtes Einkaufszentrum in Charkiw
Reuters/Vyacheslav Madiyevskyy
Ein zerstörtes Einkaufszentrum in Charkiw

Kinder müssen grenznahe Ortschaften verlassen

Unterdessen ordnete die Region Charkiw die Umsiedlung von Familien mit Kindern aus 47 grenznahen Ortschaften an. Es handle sich um Gemeinden in den drei Bezirken Bohoduchiw, Isjum und Charkiw, teilte der Militärgouverneur des Gebiets, Oleh Synjehubow, am Donnerstag auf Telegram mit. Die Gebietshauptstadt Charkiw sei jedoch davon nicht betroffen. Anlass sei der beinahe tägliche Beschuss der Orte durch die russische Armee.

Alle Betroffenen erhielten die entsprechende humanitäre und juristische Hilfe, versprach er. Tags zuvor war ein junges Mädchen im knapp zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernten Dorf Lypzi im Bezirk Charkiw bei russischem Beschuss getötet worden. Behördlich angeordnete Evakuierungsmaßnahmen gibt es regelmäßig für Gebiete nahe der russischen Grenze und entlang der gut 1.000 Kilometer langen Front zwischen ukrainischen und russischen Truppen. Die Ukraine wehrt seit über zwei Jahren eine russische Invasion ab.