1993 spielte die Grunge-Band Pearl Jam im Städtchen Indio im Coachella Valley ein Konzert – die großen Hallen im 200 Kilometer entfernten Los Angeles boykottierte die Band aus Protest gegen die Praktiken des Veranstalters Ticketmaster. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass 1999 an derselben Stelle das wohl kommerziellste Festival der Welt seinen Siegeszug starten sollte.
Coachella machte sich mit exklusiven Shows und überraschenden Gastduetten einen Namen, als Headliner gab man sich nur mit Superstars zufrieden – und wer die Superstars von morgen sehen wollte, musste ebenfalls in die kalifornische Wüste.
Finanziert wird das mit potenten Großsponsoren – heuer sind das etwa BMW, Heineken, Nike und Google – und extrem hohen Preisen. Ein Ticket für eines der beiden Wochenenden kostet 499 Dollar, darin sind weder Transfer noch Unterbringung noch Verpflegung inkludiert. VIP-Pakete kosten bis zu 10.000 Dollar. Ein Bier kostete – ebenso wie kleine Snacks – 15 Dollar.
Beste Kulisse für Influencer
Die Exklusivität des Events zog schon rasch Influencer an, die das Festival als optimale Kulisse für Postings mit Produktplatzierungen vorfanden. Mehrere tausend Dollar erhalten die Branchenführer pro Posting, wenn sie ihre Kosmetikprodukte, Textilien oder sonstigen Gimmicks vor dem passenden Hintergrund lächelnd in die Kamera zeigen.
Befeuert wurde die Entwicklung auch durch das gleichzeitig stattfindende Revolve-Festival, ein Modeevent, das nur per Einladung besucht werden darf. Schon vor einigen Jahren wurde der Ausdruck geprägt, dass Coachella quasi die Olympischen Spiele der Influencer seien. Viele Influencer täuschten auch nur vor, beim Festival zu sein, und lichteten sich selbst rund um das Gelände ab, bevor sie wieder die Heimreise antraten.
Musikpublikum genervt
Schon vergangenes Jahr war die Kritik an den Hundertschaften von nur für ihr Handy Posierenden unüberhörbar – und das offenbar mit Folgen: War das Festival mit einer Tageskapazität von 125.000 Menschen früher binnen Tagen ausverkauft, dauerte es diesmal einen ganzen Monat. Einige Medien sehen „Influencer Fatigue“ als einen möglichen Grund: Mehrere Umfragen bestätigen, dass Influencer anderen Leuten mittlerweile schlicht auf die Nerven gehen.
In einer von der Glücksspielplattform Casino.org durchgeführten Umfrage sahen je nach Fragestellung zwei Drittel bis drei Viertel der Befragten die Influencer auf dem Festival skeptisch, berichtet Yahoo.
„Netzwerkveranstaltung mit Livemusik im Hintergrund“
Die Social-Media-Analyse-Plattform CORQ wiederum äußerte im Vorjahr die These, dass Coachella einer Wachablöse auf Social Media zum Opfer fallen könnte: Es sei ein Event für Instagrammer und hübsche Bilder. TikToker würden eher dazu neigen, ihre Kritik an dem Festival wie überteuerte Preise in die Kamera zu nörgeln – und damit quasi das Event niederzumachen. Eine TikTokerin nennt dort das Coachella in Folge als „Netzwerkveranstaltung mit Livemusik im Hintergrund“. Und dass Influencer und Festivals eine unheilige Mischung sein können, weiß man spätestens seit dem Fyre-Festival-Debakel von 2017.
Blur vs. das Publikum
Für einigen Wirbel sorgte am vergangenen Wochenende der Auftritt der Britpop-Veteranen Blur am Coachella: Sänger Damon Albarn ärgerte sich auf offener Bühne über ein lethargisches und lustloses Publikum. Das mag aber auch an einer falschen Zielgruppenorientierung gelegen haben: Der Großteil des Generation-Z-Publikums war noch nicht einmal geboren, als Blur ihre größten Erfolge feierten – und das eher in Europa.
Umgekehrt wurde das Comebackkonzert von No Doubt, der Band rund um Gwen Stefani, als einer der Höhepunkte des heurigen Festivals gefeiert – und das, obwohl die US-Band ebenfalls in den 90ern ihre größten Erfolge gefeiert hatte.
Keine Megastars
Allerdings ist wohl auch das heurige Line-up ein Zeichen dafür, dass die goldene Zeit des Festivals vorbei ist. Mit Lana Del Rey, Doja Cat und Tyler, the Creator hat man zwar Stars aus der Oberliga als heurige Headliner gebucht – aber eben keine Megastars. Das Webmagazin Daily Beast schrieb schon das bevorstehende Ende des Festivals herbei, alle Hauptacts könne man für weit weniger Geld derzeit auch auf ihren aktuellen Touren sehen.
Dazu kam gleich eine Pannenserie am vergangenen Wochenende: Nelly Furtado stürzte bei ihrem Auftritt, die Rapperin Grimes, auch bekannt als Mutter des einen oder andern Kindes von Elon Musk, lieferte, offiziell aus technischen Gründen, ein katastrophales Set. Beide haben die Chance, es am kommenden Wochenende, an dem das komplette Programm einfach wiederholt wird, besser zu machen.
Der „Guardian“ sieht Coachella zwar in einer Identitätskrise, verweist aber darauf, dass allein das Aufgebot an weiblichen Newcomerinnen wie Raye, Erika de Casier, Sabrina Carpenter, Rapp und Ice Spice das ganze Drumherum vergessen machten.