Junger Mann liest im Bus am Smartphone
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EU-Wahl

Desinformation trifft auf Wissenslücken

Die Europawahl rückt näher, und mit ihr eine Flut von Desinformation, wie Fachleute erwarten. Beim Wahlvolk könnten die Kampagnen auf fruchtbaren Boden fallen. Ein „Ökosystem“ an Fake-News-Produzenten trifft auf Wissenslücken über die EU und ihre Institutionen. Hinzu kommt das Thema Ukraine. Auf dem EU-Gipfel am Donnerstag wurden Warnungen vor einer Einflussnahme Russlands auf die Wahl laut.

„Wir können nicht zulassen, dass Russland mit einem solch eklatanten Angriff auf unsere demokratischen Institutionen und Grundsätze davonkommt“, schrieben die Regierungschefs von Belgien und der Tschechischen Republik in einem Brief an ihre EU-Amtskolleginnen und -kollegen.

Belgische Geheimdienste hatten in der Vorwoche laut eigenen Angaben von Moskau gesteuerte Strukturen aufgedeckt, die prorussische Kandidatinnen und Kandidaten im Vorfeld der EU-Wahl unterstützt haben sollen. Die Netzwerke hätten versucht, den europäischen Beistand für die Ukraine in ihrem Krieg gegen Russland zu untergraben, sagte Belgiens Premier Alexander De Croo.

„Ökosysteme“ der Desinformation

Vor der Europawahl 2019 bereitete sich die EU auf großangelegte Desinformationskampagnen von Akteuren in den Mitgliedsstaaten und von außerhalb vor. Die befürchtete Einmischung blieb letztlich aus. Dieses Mal sei die Gemengelage eine andere, sagt die Politikwissenschaftlerin Julia Partheymüller von der Universität Wien gegenüber ORF.at.

Ursula von der Leyen und Charles Michel
APA/AFP/Kenzo Tribouillard
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel: Aus den EU-Staaten kommen Warnung vor russischer Einflussnahme auf die Europawahl

Schon während der CoV-Pandemie nahm das Angebot an Desinformation stark zu. Der russische „Informationskrieg“, der die Invasion der Ukraine begleitet, kommt heuer als Faktor dazu. Als Vehikel nutzt die Anbieterseite eine stetig wachsende Zahl an „Alternativmedien“ im Internet. „Da hat sich mittlerweile ein ganzes Ökosystem gebildet“, sagt Partheymüller gegenüber ORF.at.

Und natürlich bedient man sich sozialer Netzwerke – ein weiteres „Ökosystem, in dem sich Desinformation relativ unreguliert verbreiten kann“, sagt die Politologin. Hinter der Verbreitung stünden nicht nur politische Gründe: Mit gezielten Fehlinformationen und verzerrten Narrativen lassen sich Zugriffe und Einnahmen generieren.

Angriff auf Vertrauensbasis

Auf der anderen Seite steht die Bevölkerung der Mitgliedsstaaten, deren Wissen über die EU teils stark begrenzt ist. Damit einher geht ein geringes Vertrauen in die europäischen Institutionen, das durch die Krisen der vergangenen Jahre – die Pandemie und die spürbaren wirtschaftlichen Auswirkungen der russischen Ukraine-Invasion – zusätzlich erschüttert wurde.

An diesem Punkt haken die Fake-News-Verbreiter ein. Desinformation ziele oftmals auf „grundsätzliche Überzeugungen und die grundlegende Skepsis gegenüber dem System ab“, sagt Partheymüller. Der differenzierte Blick auf tatsächliche Skandale, aber auch die positiven Leistungen von Politikerinnen und Politikern geht verloren. Für Demokratien „ist das sehr schwierig, weil das ganze System basiert natürlich darauf, dass wir Vertrauen in unsere gewählten Vertreter haben“, sagt sie.

Fake-News-Flut im Superwahljahr

2024 finden weltweit so viele Wahlen statt wie selten – es sind mehr als 80 Wahlgänge, bis hin zu jenen in den USA mit der voraussichtlichen Auseinandersetzung Joe Biden gegen Donald Trump. Laut dem aktuellen Weltrisikobericht des Weltwirtschaftsforums sind Desinformationskampagnen und Fake News, die auf künstlich generierten Bildern und Videos basieren, das größte Risiko in diesem Jahr.

Anhand von Daten aus acht EU-Staaten haben Partheymüller und Kolleginnen untersucht, welche Personen am ehesten über die EU „fehlinformiert“ sind. ORF.at liegt die bisher unveröffentlichte Forschungsarbeit vor. Anfällig seien generell ältere und weniger gebildete Menschen, besonders jene mit weit rechter Einstellung und starkem politischen Interesse, heißt es darin.

Entgegen den Erwartungen würden die Betroffenen aber nicht nur in ihren eigenen „Echokammern“ verharren, sondern kämen durchaus mit anderen ideologischen Positionen in Berührung. Das führe aber lediglich zu Meinungsverschiedenheiten in persönlichen Gesprächen und nicht zu einer Änderung der Einstellung.

Influencer im Dienste autoritärer Regime

Desinformation kann aber auch Menschen erreichen, die sich von politischen Inhalten in sozialen Netzwerken fernhalten. Autoritäre Regime wie China und Syrien setzten zunehmend auf Influencerinnen und Influencer, beobachtet der Medienkompetenztrainer Dietmar Pichler. In Reisevideos werden ausschließlich die positiven Seiten des Landes präsentiert. „Alles ist sauberer als im Westen, das Land ist erfolgreich, Menschenrechtsverletzungen sind eine Lüge westlicher Medien“, lautete die Botschaft dieser unterschwelligen Propaganda, sagt Pichler. Ziel sei die Unterminierung der Glaubwürdigkeit westlicher Medien.

Der Einfluss von „Deepfakes“ – mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) veränderte Fotos, Audioaufnahmen und Videos – auf Wahlen stellt nach Ansicht von Fachleuten eine zunehmende Herausforderung für die Demokratie dar. Auch im Vorfeld der Europawahl im Juni gibt es bereits Beispiele für den Einsatz von KI zu propagandistischen Zwecken. „Ich warne allerdings davor, sich zu stark auf dieses spezielle Thema zu fokussieren“, sagt Pichler gegenüber ORF.at.

Verstärker jenseits der Onlinewelt

Ein größeres Problem ist seiner Ansicht nach der Versuch, Desinformation in etablierte Medien zu tragen und Verstärker jenseits der Onlinewelt zu finden. Russische Narrative zur Ukraine-Invasion etwa würden Eingang finden auf Meinungsseiten von Zeitungen auf oder von Talkshow-Gästen im Fernsehen verbreitet.

Ziel der Propagandisten sei, mit ihren Botschaften „ein möglichst neues Publikum zu erreichen und in die Mitte der Gesellschaft zu kommen“, so Pichler, der mit Fachleuten aus unterschiedlichen Disziplinen das „Disinformation Resilience Network“ gegründet hat. Seitens der Politik passiere hier zu wenig: „Desinformation wird komplett isoliert als Social-Media-Thema gesehen“, kritisiert er, „es braucht einen viel breiteren Blick.“

„Journalistische Tugenden“

Für Journalistinnen und Journalisten werde die Zeit vor der EU-Wahl herausfordernd, glaubt Pichler. Konsumentinnen und Konsumenten rät er, „sich an journalistischen Tugenden zu orientieren. Das heißt: Check und Recheck, bevor man etwas auf Social Media teilt.“

In Hinblick auf „Einflussakteure“ sollte man sich ansehen, wo die betreffende Person öffentlich aufgetreten ist und was sie sonst noch an Inhalten verbreitet. Zudem empfiehlt Pichler den „Eigenfaktencheck“, also einer Sache erst mit einer kurzen Onlinesuche auf den Grund zu gehen, bevor man Fotos und Videos weiterverbreite.