Mann auf einem leeren Markt in Hebron, Westjordanland
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Generalstreik

Westjordanland in Gewaltspirale gefangen

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober und dem darauf folgenden Krieg im Gazastreifen verschärft sich auch im Westjordanland die Lage zusehends. Zusammenstöße zwischen der israelischen Armee und Palästinensern stehen auf der Tagesordnung. Auch die Gewalt zwischen Palästinensern und jüdischen Siedlern eskaliert. Nach einem israelischen Militäreinsatz mit mehreren Toten begann am Sonntag ein Generalstreik.

Die israelische Armee hat in den vergangenen Monaten ihre Operationen im Westjordanland deutlich verstärkt. Der Einsatz der israelischen Armee in einer als Flüchtlingslager deklarierten Siedlung nahe der Stadt Tulkarem fiel aber auch vor diesem Hintergrund ungewöhnlich groß aus. Erst nach 48 Stunden beendete das Militär seinen Einsatz Samstagabend in dem Lager Nur Schams.

Nach Angaben der Armee töteten israelische Einsatzkräfte mindestens zehn Bewaffnete. Nach zunächst nicht offiziell bestätigten Berichten palästinensischer Medien soll unter den Getöteten auch der örtliche Kommandant der palästinensischen Terrororganisation Islamischer Dschihad, Mohammed Dschaber, sein.

Palästinenser zwischen zerstörten Häusern im Nur-Shams-Flüchtlingscamp im Westjordanland
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Der israelische Militäreinsatz hinterließ deutliche Spuren in Nur Schams

Bei Gefechten seien auch acht israelische Soldaten und ein Mitglied der verdeckt operierenden Jamas-Sondereinheit der Grenzpolizei Magaw verletzt worden, teilte ein Armeesprecher am Samstag mit. Das Gesundheitsministerium im Westjordanland und der Rote Halbmond meldeten 14 Tote und mehrere Verletzte. Unter den Toten soll sich auch ein 16-jähriger Jugendlicher befinden.

Als Reaktion auf den Militäreinsatz hatte unter anderem die Fatah-Bewegung für Sonntag zu einem Generalstreik aufgerufen. Der Aufforderung dürften zahlreiche Menschen gefolgt sein. In den Straßen von Ramallah herrschte Sonntagfrüh nach Angaben von Augenzeugen kaum Verkehr, Geschäfte waren geschlossen.

Weitere Tote am Sonntag

Die Gewalt ging unterdessen weiter. Am Sonntag griffen laut Armeeangaben zwei Palästinenser nördlich von Hebron israelische Soldaten an einem Checkpoint an. Sie seien erschossen worden. Das palästinensische Gesundheitsministerium berichtete, es sei von den israelischen Behörden über den Tod der 18 und 19 Jahre alten Männer informiert worden.

Israelische Polizisten und Soldaten am Tatort einer Schießerei in der Nähe von Hebron, Westjordanland
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Zwei Palästinenser wurden laut israelischer Armee nach einem Angriff auf einen Checkpoint erschossen

Die israelische Armee meldete überdies, dass bewaffnete Palästinenser am Sonntag aus dem Westjordanland über die Grüne Linie hinweg auf einen israelischen Kibbutz geschossen hätten. Niemand sei verletzt worden. Soldaten blockierten die Zufahrtswege in dem Gebiet und suchten in einem nahe gelegenen Ort nach den Tätern. Überdies wurde ein israelischer Siedler laut Behördenangaben leicht verletzt, als er eine Fahne nahe einer Straße entfernte und dabei ein Sprengsatz explodierte.

Das palästinensische Gesundheitsministerium meldete wiederum, dass Samstagabend in der Nähe von Nablus ein Krankenwagenfahrer bei Konfrontationen zwischen Siedlern und Palästinensern getötet worden sei. Der 50-jährige Palästinenser sei erschossen worden. Er habe Verletzte aus einem Dorf, in das zuvor Siedler eingedrungen waren, gebracht. Wer den Fahrer des Rettungswagens tötete, blieb noch offen.

Über 400 Palästinenser seit Oktober getötet

Israel hatte im Sechstagekrieg 1967 unter anderem das Westjordanland und Ostjerusalem erobert. Die Palästinenser beanspruchen die Gebiete für einen eigenen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Die Lage galt bereits vor dem 7. Oktober als angespannt. Seit den Angriffen der Hamas auf Israel und dem darauf folgenden Krieg im Gazastreifen hat sie sich aber noch weiter verschärft.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden seit Oktober allein im Westjordanland 462 Palästinenser getötet. Sie starben ganz überwiegend bei israelischen Militäreinsätzen. Einige wurden auch bei eigenen Anschlägen auf Israelis getötet. Zugleich nahm auch die Gewalt zwischen israelischen Siedlern und Palästinensern zu. Vergangene Woche sorgte die Tötung eines israelischen Jugendlichen im Westjordanland für Entsetzen in Israel. Die Todesnachricht befeuerte ihrerseits wieder gewalttätige Angriffen jüdischer Siedler gegen Palästinenser.

UNO-Menschenrechtskommissariat mit scharfer Kritik

Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte warf diese Woche israelischen Sicherheitskräften die Beteiligung an Gewaltakten von Siedlern an Palästinensern vor. Israel wurde aufgefordert, diese Gewalt umgehend zu unterbinden. „Palästinenser sind Angriffswellen Hunderter israelischer Siedler ausgesetzt gewesen, die häufig von israelischen Sicherheitskräften begleitet oder unterstützt wurden“, teilten die Vereinten Nationen mit.

Mit Blick auf die jüngste Gewalteskalation nach der Tötung des israelischen Jugendlichen sagte die Sprecherin des UNO-Hochkommissariats, Ravina Shamdasani, am Dienstag, die Entwicklung löse „große Besorgnis“ aus. UNO-Angaben zufolge wurden vier Palästinenser, darunter ein Kind, bei Vergeltungsmaßnahmen durch Siedler und bei Einsätzen der israelischen Armee getötet. Hunderte Häuser und Fahrzeuge seien in Brand gesteckt worden. Drei israelische Soldaten seien durch Steinwürfe verletzt worden.

Bericht über geplante US-Sanktionen gegen Bataillon

Am Samstag berichtete das US-Nachrichtenportal Axios, dass US-Außenminister Blinken Sanktionen gegen ein Bataillon der israelischen Streitkräfte wegen Menschenrechtsverletzungen im Westjordanland plane. Es werde erwartet, dass Blinken die Strafmaßnahmen in den kommenden Tagen ankündigen werde, so das Medium mit Verweis auf drei mit der Angelegenheit vertraute Personen. Es wäre das erste Mal, dass die USA Sanktionen gegen eine israelische Militäreinheit verhängen.

Allerdings soll es in dem konkreten Fall um Vorfälle gehen, die sich bereits vor dem 7. Oktober ereignet hatten. Das Bataillon wurde laut „Times of Israel“ mit Rechtsextremismus und Gewalt gegen Palästinenser in Verbindung gebracht. Israel zog die Einheit im Dezember 2022 aus dem Westjordanland ab und setzte sie seitdem hauptsächlich im Norden des Landes ein.

Die israelische Regierung reagierte empört auf die kolportierten Pläne. Premierminister Benjamin Netanjahu schrieb auf X (Twitter): „Gegen die israelische Armee dürfen keine Sanktionen verhängt werden!“ Die Regierung werde mit allen Mitteln gegen diese Maßnahmen vorgehen.

Benni Ganz, Mitglied des israelischen Kriegskabinetts, sagte laut „Times of Israel“, die Verhängung von Sanktionen gegen die Einheit sei ein gefährlicher Präzedenzfall und sende in Zeiten des Krieges die falsche Botschaft „an unsere gemeinsamen Feinde“. Es würden Maßnahmen ergriffen, damit diese Entscheidung nicht durchkomme. Israel verfüge über „starke und unabhängige“ Gerichte, die in der Lage seien, sich mit angeblichen Verstößen zu befassen.

Neues US-Hilfspaket durch Repräsentantenhaus

Das Verhältnis zwischen Israel und den USA ist ohnehin angespannt. Angesichts der humanitären Katastrophe im Gazastreifen und der hohen Zahl ziviler Opfer in dem Konflikt gibt es auch von den USA Kritik am militärischen Vorgehen Israels. Biden und seine Regierung hatten sich lange mit öffentlichen Einwänden zurückgehalten, in den vergangenen Wochen aber zunehmend die Tonlage gegenüber der israelischen Führung verschärft.

Zugleich billigte das US-Repräsentantenhaus Samstagabend ein Hilfspaket von 26 Milliarden US-Dollar für Israel. Einerseits sollen damit zum Beispiel Israels Raketenabwehr und die laufenden Militäroperationen der USA in der Region finanziert werden. Andererseits sind davon rund neun Milliarden US-Dollar für humanitäre Unterstützung gedacht, darunter für die Menschen im Gazastreifen und in anderen Regionen. Die nötige Zustimmung des Senats steht noch aus, gilt aber als sicher.