Umspannwerk Oberlaa mit Windturbine im Hintergrund
APA/Roland Schlager
Große Veränderungen

Stromnetz muss durch Pubertät

Österreichs Stromnetz steht vor den größten Veränderungen seit seinem Bestehen. Die Energiewende hin zur Klimaneutralität fordert nicht zuletzt die Netzbetreiber. Neue Leitungen müssen errichtet und bestehende ausgebaut werden. Dazu kommen jede Menge Umspannstationen. Doch der Netzausbau ist nicht die einzige Aufgabe – und vielleicht auch gar nicht die schwierigste.

„Wegen Baustelle geschlossen“ – eine von Lehrerinnen und Lehrern, aber auch Eltern bemühte Zuschreibung, wenn sie über junge Menschen in der Pubertät sprechen. Und tatsächlich ist der Weg von der Kindheit ins Erwachsenenalter mit gravierenden „Umbauarbeiten“ verbunden. Nun ist das Stromnetz mit seinen über hundert Jahren nicht mehr wirklich jung. Doch die Veränderungen, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten auf die wichtigste Stütze der Energieversorgung zukommen, erinnern in vielem tatsächlich an den menschlichen Weg zum Erwachsenwerden.

200.000 Kilometer sind alle Stromleitung in Österreich zusammengenommen lang – aufgeteilt auf sieben Ebenen: ganz unten die Niederspannungsebene, die direkt vor unsere Haustüre führt und mit maximal 1.000 Volt betrieben wird, ganz oben die Hochspannungsebene mit mehr als 200-fach höheren Spannungen zwischen 220 und 380 Kilovolt (KV) – das rund 7.000 Kilometer lange Übertragungsnetz.

Damit der Strom problemlos zwischen den Ebenen fließen kann, braucht es Umspannstationen. Rund 80.000 davon sind hierzulande in Betrieb – von kleinen Trafohäuschen auf der untersten Netzebene bis hin zu großen Umspannwerken, die das bundesweite Übertragungsnetz mit den Verteilnetzen in den Bundesländern verbinden. In den kommenden Jahren müssen alle diese Komponenten ausgebaut beziehungsweise „ertüchtigt“ werden, wie es in der Fachsprache heißt.

Umspannwerk
ORF/Martin Steinmüller-Schwarz
Umspannstationen, wie hier im Süden von Wien, sind die Schaltstationen zwischen den Netzebenen

Wind- und Sonnenstrom soll sich bis 2030 verdreifachen

Bis 2030 will Österreich bilanziell über das Jahr gerechnet seinen Strombedarf vollständig aus erneuerbaren Quellen decken. Die Menge an Strom aus Wind- und Sonnenenergie soll deshalb auf mehr als 30 TWh pro Jahr anwachsen – eine Verdreifachung des heutigen Status.

Windpark Handalm
ORF/Christian Öser
Windräder in den Bergen sind die Ausnahme – und werden es wohl auch bleiben

Allerdings stehen Windkraftanlagen zurzeit vor allem im Osten des Landes. Und auch die meisten neuen Windräder sollen in Niederösterreich und dem Burgenland errichtet werden – herrschen dort doch einfach die besten Bedingungen, um Wind zu „ernten“. Aber auch bei PV-Anlagen haben die beiden Bundesländer die ehrgeizigsten Ausbaupläne.

Steiniger Weg von Ost nach West

Das Problem dabei: Um das Stromnetz stabil zu halten, muss der eingespeiste Strom auch wieder unmittelbar verbraucht werden. Was also tun, wenn die Sonne scheint und der Wind stark weht – aber gerade gar nicht so viel Strom nachgefragt wird?

Tunnel in Bau
ORF/Paul Sihorsch
In Ebensee wird gerade ein neues Pumpspeicherkraftwerk errichtet – es gehört zu den eher östlich gelegenen seiner Art

Eine (Teil-)Lösung ist seit Jahrzehnten Bestandteil der heimischen Energieinfrastruktur: Pumpspeicherkraftwerke. Doch die Anlagen liegen fast alle im Westen des Landes, eben dort, wo sich die Geografie für Speicherseen besonders eignet.

APG-Vorstand Gerhard Christiner
ORF/Martin Steinmüller-Schwarz
„Netzausbau ist Pflicht“, sagt APG-Chef Christiner

„Wir werden ab 2030 im Westen so rund 7.000 bis 8.000 Megawatt Pumpspeicherleistung haben – und bis zu 20.000 Megawatt erneuerbare Erzeugung im Osten“, sagt Gerhard Christiner. Er ist technischer Vorstand der Austrian Power Grid (APG), die das bundesweite Übertragungsnetz betreibt. Und er weiß: Mit dem derzeitigen Netz wird sich das nicht ausgehen.

Derzeit bekäme die APG rund 3.000 MW an Leistung vom Osten in den Westen. „Da braucht es auf alle Fälle einen Ausbau auf unseren West-Ost-Achsen“, sagt Christiner. „In erster Linie – da führt leider kein Weg vorbei – müssen wir neue Leitungen errichten. Und teilweise müssen wir auch bestehende Leitungen verstärken und dafür bestehende Trassen demontieren und stärkere Leitungen hinstellen.“

Weniger Neubau durch heiße Netze

So wenig die APG um den physischen Ausbau umhinkommt, so sehr versucht sie laut Christiner aber auch, Alternativen auszunützen. Der APG-Chef verweist etwa auf das System des „Dynamic Line Rating“ oder „Thermal Rating“. Dahinter verbirgt sich ein Netz an Sensoren auf den Leitungen, die Windgeschwindigkeit und Temperatur messen.

Je mehr Strom über ein Leitungsseil geschickt wird, desto wärmer wird es. Doch äußere Bedingungen, sprich das Wetter, können die Temperatur des Seils auch beeinflussen. „Wenn ich null oder fünf Grad Minus habe und dann vielleicht noch Wind, dann kühlt das enorm. Und das heißt, ich kann über dieses Seil wesentlich mehr Strom transportieren“, sagt Christiner.

Mehr Stromtransport, ohne Trassen neu anlegen oder erweitern zu müssen, versprechen auch Hochtemperaturseile. Sie können mit deutlich höheren Temperaturen – und damit auch höheren Stromflüssen – betrieben werden. So lassen sich laut dem APG-Chef rund 40 Prozent mehr Strom transportieren. Und auch wenn diese Seile nicht günstig seien, im Vergleich zu einem Neu- oder Ausbau einer Trasse, inklusive aller Genehmigungsverfahren, zahle sich das schon aus.

„Intelligenteres“ Netz für mehr Flexibilität

Der Ausbau der Netze, das sei „die Pflicht, um die man nicht drumherum kommt“, sagt der APG-Chef. Getan sei es damit aber nicht: „Wir brauchen ein intelligenteres, stärker digitalisiertes Netz.“ Das heiße etwa, dass Kundinnen und Kunden die „entsprechenden Preissignale bekommen“ und es so „attraktiv wird, das Verbrauchsverhalten zu ändern“. Mit anderen Worten: Jede und jeder Einzelne soll vor allem dann Strom verbrauchen, wenn er gerade in großen Mengen vorhanden – und auch entsprechend günstig ist.

Bildschirme in APG-Steuerzentrale
ORF/Martin Steinmüller-Schwarz
In der Steuerzentrale der APG wacht der Netzbetreiber über die Stabilität des Netzes

Mit diesem Ansatz ist Christiner nicht allein. Die Flexibilität des Stromnetzes ist zu einer Art energiepolitischem Narrativ geworden. Auch und gerade bei den Verteilnetzen sei es wichtig, diese in Zukunft „nicht nur dezentraler, sondern auch viel stärker flexibler zu betrachten“, sagt etwa Thomas Kienberger, Professor für Energieverbundtechnik an der Uni Leoben. Dann müssten sie auch nicht so ausgebaut werden, „dass für jedes Kilowatt an Leistung das Netz dahintersteht. Das wird dazu führen, dass wir schon einen Netzausbau brauchen, aber keinen ausufernden.“

Netz sucht seinen neuen Platz

Doch so gut Erzeugung und Verbrauch auch aufeinander abgestimmt werden – ohne die Möglichkeit, elektrische Energie zu speichern, wird es in Zukunft kaum gehen. Das hat nicht nur mit der schwankenden Verfügbarkeit von Wind- und Sonnenenergie zu tun; sondern auch mit der Art, wie Österreich – und ganz Europa – sein Energiesystem umstellen möchte. Fossile Brennstoffe wie Erdöl oder Erdgas machen derzeit noch immer den größten Teil des Energiekuchens aus. In Zukunft müssen sie Platz machen für klimaneutrale Alternativen.

Sehr oft bedeutet das einen direkten Umstieg auf elektrische Energie. Es heißt aber zugleich, dass Energiesysteme und Energienetze enger zusammenwachsen müssen. Sektorkopplung lautet der Fachbegriff dafür. Man könnte auch sagen: In den kommenden Jahren muss das Stromnetz seinen Platz im System neu finden.

„Probieren zu wenig aus“

Ein Punkt, an dem dieses Zusammenwachsen besonders anschaulich wird, ist die Umwandlung von Strom in grünen Wasserstoff. Der gasförmige Energieträger soll einerseits als saisonaler Speicher zum Einsatz kommen, andererseits gilt er als wichtiger Brennstoff für Industrieprozesse, die sich nicht einfach elektrisieren lassen.

Umspannwerk, Stromleitungen und Windräder
ORF/Martin Steinmüller-Schwarz
Gleich neben einem Windrad Wasserstoff zu produzieren ist in Österreich noch Zukunftsmusik

Entsprechend hoch greifen die politischen Pläne für eine Wasserstoffinfrastruktur – in Österreich wie auch in Europa. Bei der Realisierung hapert es allerdings. „Wenn man hinter die Kulissen schaut, dann ist in Österreich auf der To-do-Seite wenig passiert“, sagt etwa Christiner. Auch Energieverbundtechnik-Experte Kienberger bemängelt fehlendes Tempo. „Wir haben dieses Narrativ, es ist technisch alles da. Ich bin persönlich nicht hundertprozentig überzeugt, ob das so stimmt.“ Es werde zu wenig ausprobiert und Technologie damit auch nicht fertig entwickelt.

Für den Uniprofessor liegt das auch am „Zusammenspiel der Beteiligten“ – beziehungsweise am Fehlen desselben. Tatsächlich ist manches nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. AGP-Vorstand Christiner beklagt etwa, dass sein Unternehmen als Netzbetreiber nicht selbst einen Elektrolyseur betreiben darf – also Strom zur Wasserstoffgewinnung einsetzen darf. „Der Elektrolyseur ist aus Sicht der E-Control ein Betriebsmittel, das nicht im Netz sein soll. Sie möchten das im Wettbewerb halten“, sagt Christiner.

Strenge Trennung seit über 20 Jahren

E-Control-Vorstand Alfons Haber bestätigt die engen gesetzlichen Grenzen, die das Gesetz den Netzbetreibern auferlegt. „Es ist wichtig, dass man die Monopolstruktur im Netzbereich aufrechterhält und nicht mit dem Markt vermischt. Der Netzbetreiber hat die Aufgabe, für den sicheren Transport in bestimmter Qualität zu sorgen. Die Energie einzuspeisen sollte wirklich dem Markt überlassen werden“, so Haber.

Dahinter steht die Aufspaltung des Energiemarkts, den die EU rund um die Jahrtausendwende vornahm. Seitdem stehen auf der einen Seite staatlich regulierte Netzbetreiber, auf der anderen Seite die Stromerzeugung und Energiehandel in einem liberalisierten Markt. Die Aufteilung sei damals „aus guten Gründen“ erfolgt, sagt Kienberger. Für die Sektorkopplung und für mehr Flexibilität brauche es nun aber „gut überlegte und sauber definierte Rollen und Regeln, die Verbindungen zwischen den Bereichen herstellen“.

„Öffnen einer ersten Tür“

Offen ist, welche Rolle dabei der Staat spielen soll, wie stark er in den Markt eingreifen soll und darf. Eine Aufgabe, die der Politik auf jeden Fall zukommt, ist, den rechtlichen Rahmen zur Verfügung zu stellen. Gerade wenn es um die Einspeisung von Wasserstoff geht, „sind noch ein paar gesetzliche Regelungen notwendig“, nennt E-Control-Vorstand Haber ein konkretes Beispiel.

Zugleich werde auch das sektorübergreifende Regelwerk noch stärker werden müssen, sagt Kienberger. Erst Anfang April wurde vom Klimaschutzministerium der österreichische Netzinfrastrukturplan (ÖNIP) in seiner finalen Form vorgestellt, an dessen Erstellung auch Kienberger beteiligt war. Ausgehend von den Ausbauplänen für die Erneuerbaren stellt das Papier dar, in welchem Ausmaß das Hochspannungsnetz ausgebaut werden muss. Das sei ein „erster Schritt gewesen“, sagt der Energieexperte – „das Öffnen einer Tür“, um das Stromnetz weiterzuentwickeln.

Wie diese Entwicklung aussehen wird, werden wir alle in den kommenden Jahren miterleben – als Verbraucher, aber mit jeder neuen PV-Anlage auf einem Dach auch als Erzeuger. Wir werden nicht nur neue Leitungen sehen, sondern auch neue Technologien – und vielleicht auch manche Änderung in unserem eigenen Umgang mit Energie wahrnehmen. Eines lässt sich aber jetzt schon sagen: In all diesen Veränderungen können sich das Stromnetz und seine Betreiber eines nicht leisten – wegen Baustelle geschlossen zu sein.