Palästinenser mit befüllten Säcken zwischen zerstörten Gebäuden in Chan Junis
APA/AFP
Jahresbericht 2023/24

Amnesty beklagt gelähmtes Völkerrecht

Die Welt sieht sich den erschreckenden Folgen eskalierender Konflikte und fast vollständig gelähmten völkerrechtlichen Institutionen gegenüber. Diesen Schluss zieht Amnesty International (AI) bei der Veröffentlichung des Jahresberichts 2023/24 zur weltweiten Lage der Menschenrechte, der die Situation in 155 Ländern analysiert.

„Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind weltweit so bedroht wie seit Jahrzehnten nicht mehr“, teilte die Organisation bei der Vorstellung ihres Jahresberichts am Dienstag mit. Vor allem die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen sowie im Sudan würden die Universalität der Menschenrechte infrage stellen, heißt es im AI-Bericht. Auch wachsende soziale Ungleichheit und die sich zuspitzende Klimakrise seien eine zunehmende Gefahr.

Mit einer Art Hilferuf für die Menschenrechte warnte Amnesty vor zahlreichen Problemen, die im Schatten der globalen Krisenherde stünden. Dazu zählten Rückschläge für Frauenrechte etwa in Afghanistan und harte Antiabtreibungsgesetze in mehreren US-Bundesstaaten. Gefährliche Tendenzen gebe es auch beim Einsatz künstlicher Intelligenz (KI).

„Düsteres Bild“

„Ein düsteres Bild“ für Shoura Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich. „Die Unterdrückung der Menschenrechte und die großflächige Verletzung des Völkerrechts sind alarmierend, insbesondere angesichts zunehmender globaler Ungleichheit, des Wetteiferns von Supermächten um eine Vormachtstellung und einer eskalierenden Klimakrise“, sagte Hashemi bei der Präsentation des AI-Berichts.

Hasehmi forderte „dringende Maßnahmen zur Wiederbelebung und Erneuerung der internationalen Institutionen“ wie eine Reform des UNO-Sicherheitsrates, „damit die ständigen Mitglieder ihr Vetorecht nicht unkontrolliert ausüben können, um so den Schutz von Zivilpersonen zu verhindern und ihre geopolitischen Allianzen zu festigen“.

Israel und Gaza

Prominent erwähnt der Bericht naturgemäß den erneut eskalierten Nahost-Konflikt, wo sich „sich die Belege für Kriegsverbrechen häufen und die israelische Regierung im besetzten Gazastreifen das Völkerrecht zu einer Farce macht“.

Dass es der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen sei, im Gazastreifen Tausende Zivilisten, darunter viele Kinder, vor dem Tod zu bewahren, mache deutlich, dass die Institutionen, die zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Wahrung der Menschenrechte geschaffen wurden, ihren Zweck nicht mehr erfüllten. „Was wir im Jahr 2023 gesehen haben, bestätigt, dass viele mächtige Staaten den Grundprinzipien der Menschlichkeit und Universalität, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert sind, den Rücken kehren“, so Hashemi.

Dass die auf Menschenrechten basierende internationale Ordnung offensiv infrage gestellt werde, zeige sich laut AI auch am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. So greife Russland dicht besiedelte zivile Gebiete, die Energieinfrastruktur und Getreideexporte an, kritisiert AI. Die Rede ist von eklatanten Verstößen der russischen Streitkräfte bei ihrer Invasion in der Ukraine. Man habe den AI-Angaben zufolge auch den Einsatz von Folter und anderen Misshandlungen gegen Kriegsgefangene dokumentiert.

Steigende Gefahr durch unregulierte Technik

Aber auch Technologien werden laut Amnesty aufgrund mangelnder Regulierung vielfach instrumentalisiert. „Wir befinden uns in einem wichtigen Wahljahr. Angesichts der erstarkenden Antiregulierungslobby, die von den großen Technologiekonzernen gestützt und finanziert wird, stellen unkontrollierte und unregulierte Technologien eine enorme Gefahr für uns alle dar. Sie können instrumentalisiert werden, um zu diskriminieren, zu desinformieren und zu spalten.“

Politische Gruppen verstärkten in vielen Teilen der Welt auch ihre Angriffe auf Frauen, die LGBTQ-Community und marginalisierte Gemeinschaften und nützten dazu neue und bestehende Technologien, „sei es durch die Verbreitung von Desinformationen oder als Plattform, um Gemeinschaften gegeneinander auszuspielen und Minderheiten anzugreifen“.

Sudan: 8,6 Millionen auf der Flucht

Schwere Vorwürfe richtet AI zudem an beide Konfliktparteien im Sudan. Die Rede ist von gezielten und wahllosen Angriffen gegen Zivilisten sowie einer der weltweit schlimmsten humanitären Krisen.

Der Machtkampf zwischen De-facto-Machthaber Abdel Fattah al-Burhan und seinem früheren Stellvertreter Mohammed Hamdan Daglo hat in den vergangenen zwölf Monaten die mittlerweile größte Flüchtlingskrise weltweit ausgelöst. Nach jüngsten Zahlen des UNO-Flüchtlingshilfswerks sind mehr als 8,6 Millionen Menschen innerhalb des Sudan und in den Nachbarländern auf der Flucht.

Rückschläge bei Frauen- und Minderheitenrechten

In vielen Staaten habe es dem AI-Jahresbericht zufolge Rückschläge im Kampf für Geschlechtergerechtigkeit gegeben. So hätten es Frauen in den USA immer schwerer, eine Schwangerschaft abzubrechen. In Afghanistan sei der Schulbesuch für Mädchen weiter eingeschränkt worden, im Iran gingen die Behörden mit zunehmender Härte gegen Frauen vor, die sich der Zwangsverschleierung widersetzten.

Zahlreiche Regierungen schränkten die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie von trans- und intergeschlechtlichen Menschen ein. In 62 Ländern gebe es Gesetze, die gleichgeschlechtliche Handlungen kriminalisierten.

Unkontrollierte Technik als Gefahr für alle

Der zunehmende Einsatz neuer Technologien wie KI, Spionage- und Gesichtserkennungssoftware wirke oft wie ein Verstärker bei der Bedrohung der Menschenrechtslage, sagte dazu die Expertin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter bei Amnesty Deutschland, Lena Rohrbach.

Menschen auf der Flucht würden „zum Experimentierfeld neuer Technologien“, etwa durch biometrische Überwachung und algorithmische Entscheidungssysteme wie angebliche Lügendetektoren an der Grenze. Nötig sei eine robuste, zukunftsfeste Regulierung neuer Technologien, verlangte Rohrbach.

In Russland würden bereits Kameras mit Gesichtserkennung genutzt, um etwa Teilnehmer an regierungskritischen Demonstrationen zu identifizieren, erläuterte sie. Die iranischen Behörden kündigten im vergangenen Jahr an, mit entsprechender Software Frauen zu identifizieren, die sich dem Schleierzwang widersetzen.

Und die New Yorker Polizei habe 2023 nach einer Klage von AI eingeräumt, Gesichtserkennung zur Überwachung von Black-Lives-Matter-Protesten benutzt zu haben. „Als Eingriff in die Persönlichkeitsrechte“ kritisierte Rohrbach zudem die während der Olympischen Sommerspiele geplante Videoüberwachung.

„Neues Level an transnationaler Repression“

Besonders problematisch sei der Einsatz von Spionagesoftware wie Pegasus und Predator. „Sie ermöglichen ein ganz neues Level an transnationaler Repression.“ Im vergangenen Jahr hätten etwa Armenien, Indien und Serbien die Pegasus-Software genutzt, um Medien und die Zivilgesellschaft zu überwachen. Die Software Predator, die von einem europäischen Konsortium hergestellt werde, sei beispielsweise für einen Cyberangriff auf einen in Berlin lebenden vietnamesischen Journalisten eingesetzt worden.

Daneben komme es auch versehentlich zu Menschenrechtsverletzungen durch KI, etwa beim Einsatz von Algorithmen durch Behörden. In Serbien habe die Einführung eines automatisierten Systems dazu geführt, dass Tausende Familien zu Unrecht den Zugang zur Sozialhilfe verloren. „Eigentlich gibt es eine Frist, in der Menschen die Urteile überprüfen sollen“, so Rohrbach: „Aber de facto trifft die Entscheidung ein Algorithmus.“