Herzi Halevi und Benjamin Netanjahu
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Rücktritt

Druck auf Armeechef und Netanjahu steigt

Während derzeit international die Aufmerksamkeit auf die bevorstehende israelische Offensive in Rafah konzentriert ist, bahnt sich in Israel selbst eine mögliche Umwälzung an. Denn der Rücktritt des Militärgeheimdienstchefs Aharon Haliva könnte einen „Dominoeffekt“ auslösen, wie israelische Medien seither täglich berichten.

Weitere Rücktritte könnten folgen und diese wiederum Regierungschef Benjamin Netanjahu zu vorgezogenen Neuwahlen zwingen, die dieser seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober um jeden Preis zu verhindern sucht.

Schon kurz nach dem Hamas-Überfall war klar, dass es personelle Konsequenzen geben wird. Geheimdienste, Militär und politische Führung hatten davor zahlreiche Warnhinweise ignoriert – offensichtlich, weil sie der Hamas einen Angriff dieses Ausmaßes schlicht nicht zutrauten und es nicht in Netanjahus politisches „Konzept“ passte.

Netanjahus gescheitertes „Konzept“

Netanjahu hatte sich davor jahrelang damit gebrüstet, er habe einen Weg gefunden, den Konflikt mit den Palästinensern „zu managen“ und dabei Israel sicher zu halten. Kern dieses „Konzepts“ war es, die Autonomiebehörde von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu schwächen, indem indirekt – via Katar – der interne Konkurrent Hamas gestärkt wurde.

Der nun zurückgetretene Haliva hatte als Erster noch Mitte Oktober Versagen eingeräumt und seinen Rücktritt damit angekündigt. Es folgten Eingeständnisse des Chefs des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Ronen Bar, und von Armeechef Herzi Halevi. Nur die politische Führung, allen voran der rechtspopulistische Regierungschef Benjamin Netanjahu, wollte bisher keinerlei Fehler eingestehen und lehnt den täglich von vielen geforderten Rücktritt ab. Mit der Kriegserklärung an die Hamas war rasch klar, dass die Zeit der Aufarbeitung und internen Abrechnung vorerst warten muss.

Streit um Schaltstellen der Macht

Die Opposition und Kritikerinnen und Kritiker Netanjahus hatten auch wiederholt gewarnt, dass frühe Rücktritte bei Militär und Geheimdiensten dazu führen würden, dass Netanjahu, der seine politische Verantwortung als Regierungschef bisher nicht eingesteht, ihm genehme Nachfolgerinnen und Nachfolger bestimmen könnte. Jemand, der selbst beim Erhalt der Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger so dramatisch scheiterte, wie niemand zuvor, sollte nicht die zentralen und mächtigen Schaltstellen für die Sicherheit des Landes neu besetzen, so die Argumentation.

Der Rechtsaußenpolitiker und Finanzminister Bezalel Smotrich sprang dagegen am Mittwoch für Netanjahu in die Bresche: Er kritisierte laut der Tageszeitung „Maariv“ Haliva und warnte Armeechef Halevi davor, die Nachfolge zu bestimmen. Das sei Sache der Regierung – und meinte damit ganz offensichtlich die aktuelle Koalition.

Erste Personalkonsequenz nach halbem Jahr

Nach mehr als sechs Monaten Krieg – es ist der längste durchgehende Krieg, den Israel in seiner Geschichte bisher ausfocht – zeichnet sich nicht ab, dass die beiden Hauptziele, die Rückkehr der Geiseln und ein „absoluter Sieg“, so Netanjahus Wortwahl, über die Hamas, erreicht werden. Auch wenn jetzt eine Bodenoffensive in Rafah offenbar bevorsteht – der Krieg wurde von Israels Armee schon vor Wochen deutlich zurückgefahren und gleicht eher einem Verwalten des aktuellen Standes.

Haliva sah daher nun sichtlich den Zeitpunkt gekommen. Umso mehr, als den Militärgeheimdienst wohl am unmittelbarsten die Verantwortung trifft. Jene Einheit, die via Telekommunikation und vor allem Videokameras das Geschehen im Gazastreifen beobachtete – und vor allem aus Soldatinnen besteht –, hatte noch am 6. Oktober Vorbereitungen für einen größeren Angriff gemeldet, die aber auf übergeordneter Ebene nicht ernst genommen wurden.

„Dominoeffekt“ möglich

Das Boulevardblatt „Jediot Ahronot“ berichtete am Mittwoch, dass in nächster Zeit weitere Rücktritte bevorstünden, und spekulierte vor allem über einen möglichen Abgang von Armeechef Halevi. Neben Armeechef und Schin-Bet-Chef wird erwartet, dass zumindest drei weitere hochrangige Militärs, darunter der Chef des südlichen Kommandos, Jaron Finkelman, zurücktreten.

Die Zeitung sprach wörtlich von einem „Dominoeffekt“. Denn Halivas Rücktritt wirft die Frage auf, wer seine Nachfolge bestimmt. Rein formal ist das Armeechef Halevi – freilich in enger Abstimmung mit den Chefs der anderen Geheimdienste und mit Verteidigungsminister Joav Galant und Regierungschef Netanjahu.

Selbst mit Rücktrittsaufforderungen konfrontiert

Die beiden sind aber – der weit überwiegenden Auffassung in Israel nach – ebenfalls rücktrittsreif. Die Meinung geht hier kaum in der Frage ob, sondern höchstens wann sie zurücktreten müssen, auseinander. Mehrere Rücktritte in kurzer Zeit könnten, so „Jediot Ahronot“, den Druck auf Netanjahu, vorgezogenen Neuwahlen doch zuzustimmen, stark erhöhen.

Der nach dem 7. Oktober in das Kriegskabinett eingetretene Oppositionspolitiker Benni Ganz hatte vor Wochen angekündigt, dass er spätestens im Herbst Neuwahlen anstrebt. Das scheint nun ein vom zeitlichen Ablauf mögliches Szenario. Da nicht nur Netanjahu, sondern auch die meisten seiner Koalitionspartner bei einem Urnengang eine Abstrafung fürchten müssen, sind vorgezogene Neuwahlen aber alles andere als gewiss.

Viel hängt von aktuellen Entwicklungen ab

Sollten neben Haliva andere hochrangige Militärs ihren Rücktritt einreichen, könnte das aber auch die seit dem Krieg abgeschwächte Protestwelle dramatisch anschwellen lassen. Wie es weitergeht, ist kaum vorherzusagen: Israels Innenpolitik wird nicht nur von einem komplexen Spiel der Interessen und Überzeugungen geprägt, sondern entscheidend auch von den aktuellen Ereignissen, sprich: von der Entwicklung des Mehrfrontenkriegs mit Hamas, Hisbollah und Iran.

Und Raum für politische Manöver gibt es nicht zuletzt deshalb, weil Haliva nicht mit sofortiger Wirkung zurücktritt, sondern die Regelung der Nachfolge abwartet. Fix ist nur: Eine umfassende Aufarbeitung der Ereignisse und Abrechnung mit den Verantwortlichen wird es erst nach Beendigung dieses Kriegs geben.