Zerstörtes Wohngebäude in Kharkiw
APA/AFP/Roman Pilipey
Luftangriffe

Kreml setzt auf Verwüstung Charkiws

Die zweitgrößte Stadt der Ukraine, Charkiw, ist, so auch am Mittwoch, seit Wochen schweren russischen Luftschlägen ausgesetzt. Der Kreml will offenbar die Zerstörung der Stadt mit rund 1,5 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen. Die Hintergründe der anhaltenden russischen Bombardierung sind allerdings vielfältig – und beinhalten neben der symbolischen Bedeutung der Stadt offenbar auch deren komplette Verwüstung.

Ziel des Kreml sei nicht, die Stadt einzunehmen, sagte am Mittwoch der Russland-Experte und Politikwissenschaftler Gerhard Mangott im Interview mit ntv. Es gehe vielmehr darum, alles Lebenswerte in Charkiw zu zerstören. Ein weiterer Punkt laut Fachleuten ist das Ziel Russlands, ukrainische Truppen zu binden und so mit einem erhofften Überraschungseffekt an der gut 1.000 Kilometer langen Front die erwartete russische Offensive zu eröffnen.

Der Chef des ukrainischen Militärgeheimdiensts HUR, Kyrylo Budanow, erwartet vor allem Mitte Mai, Anfang Juni Probleme an der Front, weil die Russen einen komplexen Ansatz wählten. Das sagte Budanow im Interview mit dem ukrainischen Dienst des britischen Senders BBC am Dienstag. Die Situation sei aber „nicht katastrophal. Das Armageddon kommt nicht, wie vielleicht jetzt viele sagen“, so Budanow.

Ein Bombentrichter auf einer Straße in Kharkiw
AP/Yakiv Liashenko
Ein Bombentrichter auf einer Straße in Charkiw nach einem russischen Angriff

Gezielte Angriffe auf Feuerwehr und Erstversorgung

Die Zerstörung in Charkiw ist bereits jetzt groß. Der durch einen weiteren Treffer am Montag teilweise eingestürzte 240 Meter hohe Fernsehturm war bereits zu Beginn der russischen Offensive im März 2022 von Russland getroffen worden. Durch russische Angriffe wurden auch alle drei großen Kraftwerke zerstört. Es gebe nur wenige Stunden Strom pro Tag, und diese nicht regelmäßig, wie die „New York Times“ am Mittwoch berichtete.

Mehr als hundert Schulen seien beschädigt oder zerstört, der Unterricht finde tief unter der Erde in U-Bahn-Stationen statt, hieß es weiter. Auch seien Dutzende Feuerwehr- und Erste-Hilfe-Stationen in der Stadt zerstört worden, die Angriffe brächten auch das Feuerwehr- und Sanitätspersonal in Gefahr und behinderten deren Arbeit stark, so die Zeitung weiter.

Der zerstörte Fernsehturm in Kharkiw
Reuters/Sofiia Gatilova
Die herabgestürzte Spitze des Fernsehturms von Charkiw

ISW: Kreml will Flucht von Millionen provozieren

Der Kreml führe eine konzertierte Luft- und Informationsoperation durch, um Charkiw zu zerstören, so die aktuelle Einschätzung des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) in Washington. Die russische Militärführung setzt damit offenbar auf Terror gegen die Bevölkerung. Neben den Luftangriffen gebe es auch eine Desinformationskampagne, um den Menschen in Charkiw Angst zu machen und Panik auszulösen.

Die Bewohnerinnen und Bewohner sollten durch die ständigen Angriffe in die Flucht getrieben werden. Russland wolle eine Flucht von Millionen provozieren, bevor eine mögliche russische Offensive gegen die Stadt erfolgen könnte, so die Einschätzung des ISW.

Das ISW geht auch davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen russischen Bodenoffensive gegen Charkiw sehr gering ist. Der russischen Armee fehlten die Kräfte, die zur Eroberung der Stadt erforderlich seien, solange die ukrainischen Streitkräfte, die sie verteidigten, ausreichend versorgt seien, heißt es in der aktuellen ISW-Einschätzung.

Zerstörte kritische Infrastruktur in Kharkiw
Reuters/Vyacheslav Madiyevskyy
Die Energieinfrastruktur wurde von Russland gezielt zerstört

US-Militärhilfe „innerhalb weniger Tage“ auf dem Weg

Dazu zählt auch die Militärhilfe aus den USA. Nach einer monatelangen Hängepartie hatte der US-Kongress milliardenschwere Hilfen für die von Russland angegriffene Ukraine gebilligt. Das Gesetz sieht Hilfen im Umfang von rund 61 Milliarden Dollar (rund 57 Mrd. Euro) für Kiew vor. US-Präsident Joe Biden sagte am Mittwoch, er werde „sicherstellen, dass die Lieferungen sofort, in den nächsten Stunden, beginnen“.

Kurz darauf wurde bekannt, dass die USA die seit Monaten gewünschten Raketen vom Typ ATACMS an die Ukraine geliefert haben. Sie seien Teil eines von den USA im März bekanntgegebenen Notfallmilitärpakets im Umfang von rund 300 Millionen Dollar für die Ukraine gewesen, dort aber nicht explizit aufgeführt worden, „um die operative Sicherheit der Ukraine auf deren Ersuchen hin aufrechtzuerhalten“, hieß es.

Die Raketen haben eine Reichweite von 300 Kilometern. Offiziell lieferte Washington bisher nur ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von 165 Kilometern. Die neuen Raketen sollen bereits bei einem Angriff auf die von Russland besetzte Krim vergangene Woche zum Einsatz gekommen sein, so die Nachrichtenagentur Reuters, offiziell bestätigt wurde das aber nicht. In dem nun neu angekündigten Paket sollen übereinstimmenden Medienberichten zufolge weitere ATACMS-Raketen enthalten sein.

Experte Reisner über Militärhilfe für Ukraine

In der ZIB2 war Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer zu Gast. Er sprach unter anderem darüber, ob die militärische Hilfe für die Ukraine eventuell bereits zu spät kommt oder zu wenig Unterstützung darstellt.

Im mehr als zwei Jahre dauernden Angriffskrieg Russlands gelten die USA als wichtigster Verbündeter der Ukraine. Die bisherigen US-Hilfen für die Ukraine waren ausgelaufen. Kiew ist auf die Unterstützung der USA angewiesen. Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 hat die Regierung von Präsident Biden militärische Hilfe im Umfang von mehr als 44 Milliarden US-Dollar für Kiew bereitgestellt. Hinzu kommen Milliarden an nicht militärischer Finanzhilfe.

Zerstörter Landwirtschaftlicher Betrieb in der Region Kharkiw
APA/AFP/Anatolii Stepanov
Zerstörter landwirtschaftlicher Betrieb in der Region Charkiw

Charkiw mit großer symbolischer Bedeutung

Für den Kreml hat Charkiw als „eine der Hauptstädte“ der Ukraine, wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sie nannte, auch große symbolische Bedeutung. Bereits zu Kriegsbeginn wollte Russland die Stadt einnehmen. In den ersten Monaten der großangelegten russischen Invasion zogen Moskaus Truppen durch die Region Charkiw, bevor im Herbst 2022 eine Blitzoffensive der Ukraine die russischen Truppen wieder zurückdrängte.

Russland verkündet seit Monaten immer wieder Geländegewinne, vor allem im Osten der Ukraine. Allerdings betonten die Experten und Expertinnen des ISW am Wochenende, dass Russland lediglich operative Erfolge verzeichne – und keinen echten Durchbruch an der Front, der einem strategischen Erfolg gleichkäme.