Internationaler Strafgerichtshof von außen
AP/Peter Dejong
Berichte

Netanjahu befürchtet IStGH-Haftbefehl

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu befürchtet Medienberichten zufolge, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag könnte Haftbefehle gegen ihn und andere Mitglieder der israelischen Regierung erlassen. Die Knesset gehe davon aus, dass neben Netanjahu Verteidigungsminister Joav Galant und Generalstabschef Herzi Halevi betroffen sein könnten, berichteten israelische Medien am Sonntag.

Der IStGH ermittelt bereits seit 2021 gegen die radikalislamische Hamas und Israel wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen. Auch zu Gewalt israelischer Siedler im Westjordanland laufen Untersuchungen. Netanjahu sei wegen möglicher Festnahmen, die eine dramatische Verschlechterung des internationalen Ansehens Israels bedeuten würden, äußerst besorgt, hieß es in den Berichten.

Netanjahu schrieb am Freitag auf X (Twitter), Israel werde unter seiner Führung „niemals irgendeinen Versuch des Strafgerichtshofs akzeptieren, sein inhärentes Recht auf Selbstverteidigung zu untergraben“. Der Regierungschef schrieb zudem: „Die Drohung, Soldaten und Repräsentanten der einzigen Demokratie im Nahen Osten und des einzigen jüdischen Staates der Welt zu fassen, ist empörend.“ Israel werde „den gerechten Krieg gegen Terroristen, die auf Völkermord aus sind, bis zum Sieg fortsetzen“.

IStGH-Staaten wären zu Festnahmen verpflichtet

Eine solche Entscheidung des IStGH würde zwar nicht Israels Vorgehen beeinflussen, wäre aber „ein gefährlicher Präzedenzfall, der die Soldaten und Repräsentanten aller Demokratien bedroht, die gegen brutalen Terrorismus und rücksichtslose Aggression kämpfen“, schrieb Netanjahu weiter.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu
APA/AFP/Ronen Zvulun
Benjamin Netanjahu steht zunehmend unter internationalem Druck

Juristisch würde ein Haftbefehl des IStGH gegen Netanjahu und andere Israelis bedeuten, dass Staaten, die die Statuten des IStGH unterzeichnet haben, verpflichtet wären, diese Personen festzunehmen und an den Gerichtshof zu überstellen – sofern sich diese auf das Hoheitsgebiet dieser Staaten begeben.

Ermahnung durch Internationalen Gerichtshof

Der IStGH verfolgt Individuen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermordes. Israel erkennt das Gericht nicht an, aber die palästinensischen Gebiete sind Vertragsstaat. Daher darf der Ankläger auch ermitteln. Dagegen soll der Internationale Gerichtshof (IGH), ebenfalls mit Sitz in Den Haag, Konflikte zwischen Staaten lösen. Dieses höchste UNO-Gericht hatte kürzlich Israel ermahnt, alles zu tun, um möglichen Völkermord im Gazastreifen zu verhindern.

Angehörige von Geiseln der Hamas hatten den IStGH im Februar dazu aufgerufen, gegen die Führer der Terrororganisation zu ermitteln und Haftbefehle zu erlassen. Sie forderten strafrechtliche Ermittlungen wegen Geiselnahme, sexueller Gewaltverbrechen, Folter und Mordes.

Abbas: USA sollen Rafah-Offensive verhindern

Unterdessen rief Palästinenserpräsident Mahmud Abbas am Sonntag die US-Regierung auf, eine israelische Bodenoffensive in Rafah im Gazastreifen zu verhindern. „Wir appellieren an die Vereinigten Staaten, Israel aufzufordern, den Einsatz in Rafah zu unterlassen, denn Amerika ist das einzige Land, das Israel daran hindern kann, dieses Verbrechen zu begehen“, sagte Abbas bei einem Sondertreffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Saudi-Arabien. Ein militärisches Vorgehen Israels in der Stadt Rafah wäre Abbas zufolge „das größte Desaster der Geschichte des palästinensischen Volkes“, sagte Abbas weiter.

Netanjahu hatte in den vergangenen Monaten immer wieder eine großangelegte Bodenoffensive in Rafah im Süden des Gazastreifens angekündigt – ungeachtet der internationalen Proteste gegen die Pläne. In die Stadt nahe der ägyptischen Grenze waren in den vergangenen Monaten mehr als 1,5 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner des nördlichen Gazastreifens geflüchtet. Nach Angaben der israelischen Regierung befinden sich dort noch vier Bataillone der Hamas.

Innenpolitischer Druck verstärkt sich

Auch innenpolitisch verstärkt sich der Druck auf Netanjahu – von unterschiedlichen Seiten: Wenn Netanjahu sich entscheide, eine „weiße Fahne zu hissen“ und den Plan einer Bodenoffensive in Rafah abzusagen, „dann hat die von Ihnen geführte Regierung kein Recht zu existieren“, schrieb der rechtsextreme Finanzminister Belazel Smotrich am Sonntag auf X (Twitter). „Der ägyptische Deal ist eine demütigende Kapitulation (…), er verurteilt die Geiseln zum Tode, und vor allem stellt er eine unmittelbare existenzielle Gefahr für den Staat Israel dar“, fuhr er fort.

Der frühere Armeechef und Ex-Verteidigungsminister Benni Ganz, der Netanjahus Kriegskabinett angehört, erklärte seinerseits, eine Invasion in Rafah sei „wichtig im langen Kampf gegen die Hamas“, aber die Rückkehr der Geiseln sei „dringend und von größter Bedeutung“. Wenn Minister der Regierung die Umsetzung eines „verantwortungsvollen Plans zur Rückkehr der Geiseln, der vom gesamten Verteidigungsapparat unterstützt wird und der nicht das Ende des Krieges bedeutet“, verhinderten, dann „hat die Regierung nicht mehr das Recht, weiter zu existieren“.

Blinken-Mitarbeiter bezweifeln rechtmäßigen Waffeneinsatz

Unter Mitarbeitern von US-Außenminister Antony Blinken herrschen Reuters-Informationen zufolge unterdessen erhebliche Zweifel an einer rechtmäßigen Verwendung von US-Waffenlieferungen durch Israel. In einem von Reuters eingesehenen internen Dokument des Ministeriums erklären leitende Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterinnen mehrerer Abteilungen, sie sähen Israels Zusicherungen, diese Waffen in Übereinstimmung mit internationalem humanitärem Recht zu verwenden, nicht als „glaubwürdig oder zuverlässig“ an.

Es wurden Beispiele für Militäraktionen aufgelistet, die nach Ansicht der Regierungsvertreter Fragen zu möglichen Verstößen aufwerfen. Dazu gehörten laut Erklärung wiederholte Angriffe auf geschützte Stätten und zivile Infrastrukturen, ein „unverhältnismäßig hohes Maß an zivilem Schaden zugunsten militärischer Vorteile“ und die Tötung von humanitären Helferinnen und Helfern sowie Journalistinnen und Journalisten in einem noch nie da gewesenen Ausmaß.

Uneinigkeit innerhalb des US-Außenministeriums

Das Büro für politische und militärische Angelegenheiten, das auch für Militärhilfen und Waffenlieferungen zuständig ist, warnte Außenminister Blinken davor, die Waffenlieferungen aus den USA auszusetzen. Dadurch würde Israels Fähigkeit, sich zu verteidigen, eingeschränkt, und Washington müsse alle „laufenden und zukünftigen Verkäufe an Länder in der Region“ neu bewerten. Die Stellungnahmen vermitteln das bisher umfassendste Bild der Uneinigkeit innerhalb des Außenministeriums darüber, ob Israel im Gazastreifen gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen könnte.

Bei den Attacken der Hamas im israelischen Grenzgebiet am 7. Oktober waren rund 1.200 Menschen getötet und mehr als 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden. Die Angriffe waren Auslöser für die militärische Offensive Israels im Gazastreifen, bei der nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher mehr als 34.400 Menschen getötet worden sind.