Russischer Panzer nahe der Frontlinie
IMAGO/Stanislav Krasilnikov
Ukraine

Kleinstadt im Fokus russischer Offensive

In den vergangenen Wochen sind die russischen Streitkräfte in der Ostukraine deutlich schneller vorgedrungen als in den Monaten zuvor. Laut einem Bericht des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) könnte die russische Armee die Offensive in zwei Richtungen ausweiten. In den Fokus rückt dabei auch Jassiw Jar – eine Kleinstadt nahe Bachmut, mit besonderer geografischer Lage.

Russlands Armee ist im Osten der Ukraine auf dem Vormarsch. Monatelang war es in dem Stellungskrieg an der Front nur um Gebietsgewinne von wenigen hundert Metern gegangen. Dann eroberte die russische Armee im Februar Awdijiwka. Die zur Festung ausgebaute und inzwischen völlig zerstörte Stadt liegt nur wenige Kilometer nördlich von Donezk, das schon seit 2014 von prorussischen Kräften kontrolliert wird.

In den Wochen nach dem Fall von Awdijiwka verschob sich die Front rund 15 Kilometer Richtung Westen. Eine ganze Reihe weiterer Ortschaften fiel seither unter russische Kontrolle. Erst am Sonntag meldete das russische Verteidigungsministerium die Eroberung der kleinen Ortschaft Nowobachmutiwka, rund zehn Kilometer nordwestlich von Awdijiwka.

Zwei mögliche Richtungen

Nun stellt sich die Frage, wie die russische Armee weiter vorgeht. Die ukrainische Armee rechnet angesichts des zunehmend trockenen Wetters damit, dass in Kürze eine Ausweitung der russischen Offensive bevorsteht. Der Thinktank ISW in Washington geht dabei von zwei Optionen für die russischen Streitkräfte aus.

Für Moskau gebe es jetzt mehrere taktische Möglichkeiten, die Offensive westlich von Awdijiwka auszuweiten, hieß es in einem Bericht des ISW von Montagabend. Die russische Militärführung könnte die Truppen nach Westen in Richtung der Industriestadt Pokrowsk bewegen. Eine andere Möglichkeit wäre, Richtung Norden zu schwenken, um den Angriff auf die Kleinstadt Tschassiw Jar zu verstärken.

Strategische Bedeutung durch geografische Lage

Tschassiw Jar liegt nur rund fünf Kilometer westlich von Bachmut – jener Ort, um den sich ukrainische und russische Truppen eine monatelange blutige Belagerungsschlacht lieferten. Zehntausende Soldaten fielen in den Kämpfen, bis Moskau im Mai 2023 die Eroberung der Stadt meldete. Die strategische Bedeutung von Bachmut wird bis heute kontrovers diskutiert. Nun nutzen die russischen Truppen Bachmut für den Angriff auf Tschassiw Jar.

Ihre geografische Lage rückt die Kleinstadt in den Fokus der russischen Offensive. Der Ort liegt auf einer Anhöhe, dahinter befindet sich weitgehend offenes Gelände. „Nehmen die Russen Tschassiw Jar ein, haben sie Feuerkontrolle über die Städte im Umland“, schrieb etwa der „Spiegel“. Besetzten russische Truppen die Anhöhe, könnten sie ihre Flugabwehrsysteme näher heranbringen und die Ausrüstung zwischen den Gebäuden verstecken. „Wir werden dann gezwungen sein, unsere Feuerkraft zurückzuziehen“, zitierte der „Spiegel“ aus einem Interview eines ukrainischen Kommandeurs mit der ukrainischen Zeitung „Ukrainska Prawda“.

Ukrainische Soldaten an der Frontlinie
Reuters/Sofiia Gatilova
Die Ukraine kämpft seit Monaten mit Munitionsmangel

In Kiew geht man davon aus, dass Russland die Angriffe auf Tschassiw Jar bereits in den kommenden Tagen verstärken werde. Die russische Militärführung plane, die Eroberung von Tschassiw Jar am 9. Mai als Erfolg zu melden. Der Tag, an dem Moskau an den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland erinnert, ist einer der wichtigsten russischen Feiertage.

Munitionsmangel verschärft sich

Zwar sind die ukrainischen Truppen in Tschassiw Jar aufgrund der geografischen Lage noch im Vorteil. Doch auch dort hat die ukrainische Armee mit mangelnder Munition zu kämpfen. Umso mehr hofft Kiew darauf, dass die vom Westen angekündigten Waffenlieferungen bald in der Ukraine eintreffen.

Das betrifft auch Systeme zur Flugabwehr. Hat Russland doch inzwischen auf Teilen der Front die Lufthoheit. Dazu kommen inzwischen deutlich sichtbare Ermüdungserscheinungen aufseiten der ukrainischen Truppen.

Die täglichen russischen Raketenangriffe, die täglichen Angriffe an der Front könnten gestoppt werden, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montagabend in seiner Videobotschaft. „Aber dazu ist die ukrainische Armee auf ausreichende Unterstützung durch ihre Partner angewiesen.“

Stoltenberg mahnt mehr Militärhilfe ein

Über Waffenhilfe hatte Selenskyj zuvor auch mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gesprochen, der ohne öffentliche Ankündigung eine Reise nach Kiew unternommen hatte. Stoltenberg mahnte einmal mehr Militärhilfe der Bündnisländer für die Ukraine ein. Auch der Mangel an Munition aufseiten der Ukraine habe den Russen Vorstöße an der Front ermöglicht, so der NATO-Generalsekretär.

Feuerwehrleute durchsuchen ein zerstörtes Wohnhaus
APA/AFP/Genya Savilov
Russland verschärfte zuletzt auch die Luftangriffe auf die Ukraine

Im Gespräch mit Stoltenberg bestätigte Selenskyj, dass die ersten versprochenen Waffenlieferungen der USA bereits eingetroffen seien. „Doch muss der Prozess beschleunigt werden“, sagte er. Bei den von der Ukraine erwarteten zusätzlichen Patriot-Systemen gebe es keine konkreten Zusagen, wohl aber erste Schritte. Nach monatelanger Blockade war es der US-Regierung von Präsident Joe Biden Mitte April gelungen, ein milliardenschweres Hilfspaket durch den Kongress zu bringen.

Weitere Luftverteidigungssysteme aus Deutschland

Am Dienstag bestätigte auch Deutschland weitere militärische Unterstützung für die Ukraine. In der jüngsten Lieferung seien unter anderem zwei Luftverteidigungssysteme vom Typ Skynex samt Munition, zehn Schützenpanzer vom Typ Marder, 7.500 Schuss Artilleriemunition sowie 3.000 Panzerabwehrhandwaffen enthalten, teilte die deutsche Regierung in einer aktualisierten Übersicht auf ihrer Website mit.

Überdies lieferte Deutschland der Ukraine nach Regierungsangaben bisher zwei Patriot-Systeme sowie weitere Systeme der Typen IRIS-T und Skynex. Weiterhin heftig diskutiert wird in Deutschland die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern, die nicht zuletzt von Kanzler Olaf Scholz (SPD) kategorisch abgelehnt wird.