Italiens Premierministerin Giorgia Meloni, die Vorsitzende der Regierungspartei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens), bei einer EU-Wahlkampfveranstaltung in Pescara
Reuters/Remo Casilli
Italien

Politprominenz als Lockvögel bei EU-Wahl

Nach Ablauf der Einreichfrist für die Kandidatenlisten für die EU-Wahl in Italien ist deutlich geworden: Bei diesem Urnengang wollen besonders viele italienische Parteivorsitzende und Politgrößen – zumindest auf dem Papier – ins Europaparlament einziehen, allen voran Premierministerin Giorgia Meloni. Bei ihr und weiteren Spitzenkandidaten wird daran gezweifelt, dass sie ihre nationalen Ämter tatsächlich für einen Sitz in Straßburg aufgeben würden. Das Kalkül mit prominenten Lockvögeln ist in der italienischen Geschichte jedenfalls nicht neu.

Meloni, Vorsitzende der postfaschistischen Regierungspartei Fratelli d’Italia (FdI), äußerte vergangene Woche die Hoffnung, dass mit ihrer Kandidatur die Vertretung ihrer Partei im EU-Parlament zunehmen werde. „Damit können wir die Pläne Italiens in Europa mehr unterstützen“, so die Regierungschefin. Ihr Ziel sei es, nach dem Vorbild Roms auch in Straßburg eine Mitte-rechts-Mehrheit aufzubauen. Ob sie ihren Sitz als Premierministerin dafür aufgeben wolle, erfuhr man bei der Bekanntgabe nicht.

Melonis Schritt ist keine ungewöhnliche Strategie unter führenden Politikerinnen und Politikern Italiens. Im Jahr 2009 kandidierte der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi als Spitzenkandidat seiner Partei bei der EU-Wahl und blieb im Amt des italienischen Regierungschefs, nachdem er bei der Wahl den ersten Platz belegt hatte. In Brüssel und Straßburg sah man ihn Aufzeichnungen zufolge nur selten. Der sozialdemokratische Ex-Premier Matteo Renzi tat fünf Jahre später dasselbe.

Viele bekannte Namen auf der Liste

Auch Außenminister Antonio Tajani, Vorsitzender der rechtskonservativen Regierungspartei Forza Italia, kandidiert in allen Wahlkreisen. Unter seiner Führung hofft die von dem im Juni verstorbenen Berlusconi gegründete Partei auf mindestens zehn Prozent der Stimmen. In Norditalien kandidiert für die Forza Italia die Ex-Bildungsministerin und ehemalige Mailänder Bürgermeisterin Letizia Moratti.

Elly Schlein bei einer EU-Wahlkampfveranstaltung der Sozialdemokraten in Rom
APA/AFP/Andreas Solaro
Schleins Gesicht kennt man in Straßburg und Brüssel

Ex-Premier Renzi zieht als Kandidat seiner Oppositionspartei Italia Viva in den Wahlkampf. Dasselbe macht Ex-Industrieminister Carlo Calenda als Vorsitzender der Zentrumskraft Azione. Ihre Kandidatur reichte auch Ex-Außenministerin Emma Bonino ein, die ihre liberale Partei Piu Europa anführt. Diese schloss eine Listenverbindung mit Renzis Italia Viva, zusammen bilden sie die Liste Stati Uniti d’Europa (Vereinigte Staaten von Europa).

Zudem will eine in Italien aktive Sozialdemokratin antreten: Elly Schlein, die Vorsitzende der sozialdemokratischen Partito Democratico (PD). Sie kennt sich in Straßburg und Brüssel aus. Bereits von 2014 bis 2019 war sie Mitglied des Europäischen Parlaments, doch ob es sie wirklich erneut in die EU-Politik zieht, werden wohl erst die nächsten Monate zeigen.

Teils skandalumwitterte Kandidaten

Bei den Kandidaturen kam es zu Überraschungen. Melonis FdI reichte die Kandidatur des Ex-Kulturstaatssekretärs Vittorio Sgarbi ein. Der 71-jährige Kunstexperte war im Februar im Zuge eines Skandals um mutmaßliche Geldwäsche und Diebstahl eines Kunstgemäldes vom Posten des Kulturstaatssekretärs zurückgetreten.

Kunstexperte Vittorio Sgarbi (Brüder Italiens)
IMAGO/Italy Photo Press/LA RIPARTENZA
Sgrabi ist wegen mutmaßlicher Geldwäsche und Diebstahls eines Gemäldes nicht mehr italienischer Kulturstaatssekretär

Daher sorgte seine Kandidatur in den Reihen der Meloni-Partei für Aufregung. Zu den Kandidatinnen und Kandidaten in den Reihen der FdI zählt auch die römische Stadträtin Rachele Mussolini, Halbschwester der Enkelin des Diktators Benito Mussolini, Alessandra Mussolini, die mit der Forza Italia auf eine Wiederwahl als EU-Parlamentarierin hofft.

Der General Roberto Vannacci, der mit seinem umstrittenen Buch „Il mondo al contrario“ („Die verkehrte Welt“) zum Bestsellerautor wurde und seit Monaten in Italien für Debatten sorgt, kandidiert für die mitregierende rechtspopulistische Lega. Er nimmt als unabhängiger Kandidat am Wahlkampf teil. Vannacci hatte in den vergangenen Monaten wegen rassistischer und homophober Aussagen in seinem Buch für Kritik gesorgt. Lega-Vorsitzender Matteo Salvini, der in der Regierung Meloni auch Vizepremier und Verkehrsminister ist, verzichtete auf eine Kandidatur.

Journalisten, Fußballtrainerin, Gefangene

Auch einige Journalisten und Journalistinnen hoffen auf den Sprung ins EU-Parlament. Der TV-Journalist und Moderator Michele Santoro schaffte es, in allen fünf Wahlkreisen die erforderlichen Unterschriften für die Kandidatur seiner neu gegründeten pazifistischen Partei Pace, terra e dignita (Frieden, Land und Würde) zu sammeln. Die ehemalige RAI-Journalistin Lucia Annunziata kandidiert in den Reihen der Sozialdemokraten. Die linkspopulistische Movimento 5 Stelle schickt die Ex-Trainerin der italienischen Fußballnationalmannschaft, Carolina Morace, ins Rennen.

Linksaktivistin Ilaria Salis bei einer Gerichtsverhandlung am 28. März 2024 in Budapest
Reuters/Bernadett Szabo
Salis sitzt in Ungarn in Haft

Die in Ungarn inhaftierte Ilaria Salis wird bei der Europawahl im Juni für die Linkspartei Alleanza Verdi Sinistra (AVS) kandidieren. Die 39-jährige Volksschullehrerin, die wegen eines mutmaßlichen Angriffs auf zwei Neonazis im vergangenen Jahr in Budapest vor Gericht steht, soll als AVS-Spitzenkandidatin in einem norditalienischen Wahlkreis antreten.

Gegen die Norditalienerin hatte im Jänner in Budapest ein Prozess begonnen, bei dem sie in Hand- und Fußfesseln in den Gerichtssaal gebracht wurde. Das hatte in Italien für Aufsehen gesorgt. Der Frau drohen bis zu elf Jahre Haft. Ihr Vater hatte mehrmals über angeblich unmenschliche Bedingungen berichtet, in denen seine Tochter in Ungarn festgehalten werde.

Prodi kritisiert Kandidaturen

Der frühere EU-Kommissionschef Romano Prodi kritisierte vor zwei Wochen, dass viele Prominente in das Wahlduell für die EU-Parlamentswahl ziehen. „Die Parteien rufen die Wähler auf, ihre Stimme einer Person zu geben, die sicherlich nicht nach Brüssel ziehen wird, wenn sie gewinnt. Das sind Wunden der Demokratie, die einen Graben hinterlassen. Diese Argumentation betrifft Schlein, Tajani und alle Politiker, die sich um ein Amt bewerben: So kann man die Demokratie nicht unterstützen“, so Prodi.

Prodis Aussagen kamen vor dem Bekanntwerden der Kandidatur Melonis. Ein Sprecher des EU-Parlaments sagte gegenüber „Politico“, dass Meloni, sollte sie einen Sitz im Europäischen Parlament einnehmen, ihr Amt als Premierministerin niederlegen müsste. Das sei ein höchst unwahrscheinliches Szenario.

Die Wahl zum Europäischen Parlament findet von 6. bis 9. Juni statt. In Österreich ist der Wahltag der 9. Juni, in Italien wird am 8. und 9. Juni gewählt.