Rauch über Rafah
APA/AFP
Trotz US-Warnungen

Angriffe auf Rafah deuten auf Offensive

Trotz Warnungen von US-Präsident Joe Biden, Waffenlieferungen an Israel einzuschränken, dürfte eine Offensive gegen Rafah im Gazastreifen näher rücken. Am Donnerstag gab es Berichte über starken Artilleriebeschuss und eine Fluchtbewegung aus der Stadt. Biden hatte Israel zuvor deutlich kritisiert. Israels Premier Benjamin Netanjahu sagte, sein Land werde notfalls allein kämpfen.

Die BBC berichtete am Donnerstag von schwerem Beschuss der Stadt im Süden des Gazastreifens mit Artillerie bzw. Granaten. Es habe binnen 24 Stunden mehr Einschläge gegeben als in den letzten beiden Wochen zuvor. Die radikalislamische Hamas und die Terrororganisation Islamischer Dschihad lieferten sich am Rand der Stadt offenbar Gefechte mit der israelischen Armee. Die israelische Armee soll Panzer in der Nähe von Wohnvierteln zusammengezogen haben.

Laut Angaben der Vereinten Nationen sind seit Beginn des Beschusses von Rafah am Montag rund 80.000 Menschen aus der Stadt geflohen. In Rafah und der unmittelbaren Umgebung halten sich bis zu eine Million Flüchtlinge auf – der Hauptgrund dafür, dass die USA und andere Länder Israel vor einem großflächigen Angriff gewarnt hatten.

Biden droht mit Aussetzen von Waffenlieferungen

In einem Exklusivinterview mit dem US-TV-Sender CNN, das am Mittwochabend ausgestrahlt wurde, unterstrich Biden die Warnungen an Israel nochmals deutlich. Waffen, welche die USA geliefert hatten, hätten im Gazastreifen Zivilisten getötet, sagte Biden.

US-Drohung an Israel als „Wendepunkt“

Im Gaza-Krieg erhöhen die USA den Druck auf Israel. Präsident Joe Biden drohte Israel erstmals damit, im Fall einer Großoffensive auf die Stadt Rafah die Lieferung von Waffen einzuschränken. ORF-USA-Korrespondentin Barbara Wolschek sieht einen „Wendepunkt“ in den Beziehungen der beiden Verbündeten.

Er habe klargemacht, so Biden, dass es, falls Israel eine Großoffensive auf Rafah beginnt, Waffen, die Israel in der Vergangenheit bekommen und im Gazastreifen eingesetzt habe, nicht mehr bekommen werde. Biden bezog sich auch auf schwere Bomben, deren Lieferung die USA bereits eingestellt haben – aber nicht nur. Er sprach auch andere Waffen an.

Auch Artilleriemunition gemeint

Die USA würden weiterhin dafür sorgen, dass Israel unter seinem Luftabwehrsystem „Iron Dome“ sicher sei und sich gegen Angriffe aus Ländern im Nahen Osten (wie zuletzt aus dem Iran) verteidigen kann, sagte Biden. Aber ein Großangriff auf Rafah wäre falsch, und die USA würden in diesem Fall etwa auch die Lieferung von Artilleriemunition einschränken. Verteidigung und Krieg zu führen seien nicht dasselbe, so Biden sinngemäß.

US-Präsident Joe Biden beim israelischen Premier Benjamin Netanyahu in Tel Aviv im November 2023
Reuters/Miriam Alster
US-Präsident Joe Biden und Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu

Ungewöhnlich deutliche Kritik

CNN nannte Bidens Aussagen einen „Wendepunkt“. Er hatte Israel bisher mehr oder minder bedingungslos unterstützt, geriet deshalb aber zuletzt innenpolitisch unter Druck. Nun kritisierte Biden Israel bzw. die Kriegsführung im Gazastreifen ungewöhnlich scharf. US-Bomben seien dort dazu genutzt worden, Zivilisten zu töten, sagte er in dem Interview. Eine geplante Lieferung von über 3.000 Bomben wurde bereits ausgesetzt.

Israelische Armee besetzt Grenzübergänge

Am Dienstag hatte die israelische Armee Panzer nach Rafah geschickt und auf der palästinensischen Seite die Kontrolle über den Grenzübergang zu Ägypten übernommen. Biden sagte CNN, Israel sei nicht in Wohnviertel vorgedrungen.

Rauchsäulen über Rafah
AP/Ismael Abu Dayyah
Die israelische Armee besetzte die palästinensische Seite des Grenzübergangs bei Rafah

Er habe Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und dem Kriegskabinett jedoch klargemacht, „dass sie nicht unsere Unterstützung erhalten werden, wenn sie tatsächlich in diese Wohnviertel gehen“, sagte Biden. Israel sieht Rafah als letzte verbliebene Hochburg der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas.

Netanjahu: Notfalls allein kämpfen

Israels rechtsgerichteter Ministerpräsident Netanjahu sagte, sein Land sei bereit, notfalls allein zu kämpfen. „Wie ich bereits gesagt habe, werden wir, wenn es sein muss, mit unseren Fingernägeln kämpfen“, so Netanjahu in einer Videobotschaft. „Aber wir haben viel mehr als unsere Fingernägel, und mit dieser Willensstärke, mit Gottes Hilfe, werden wir gemeinsam siegreich sein.“

Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gilad Erdan, hatte sich am Donnerstag „sehr enttäuscht“ über die Drohung Bidens gezeigt. „Das ist eine schwierige und sehr enttäuschende Äußerung von einem Präsidenten, dem wir seit Beginn des Krieges dankbar sind“, sagte er. Bidens Äußerungen würden von Israels Feinden Iran, Hamas und Hisbollah als etwas interpretiert, „das ihnen Hoffnung auf Erfolg gibt“.

Das US-Nachrichtenportal Axios berichtete, ranghohe israelische Beamte hätten ihre „tiefe Frustration“ über die Kursänderung der USA zum Ausdruck gebracht. Sie hätten außerdem davor gewarnt, dass diese die indirekten Verhandlungen über eine Waffenruhe und die Freilassung von Geiseln gefährden könne.

Hamas schließt weitere Zugeständnisse aus

Axios zitierte israelische Analysten, wonach die Hamas mit dem Einsatz in Rafah unter Druck gesetzt werden soll, ein Abkommen zu akzeptieren, das hinter den Forderungen der Terrororganisation zurückbleibe. Die Hamas besteht weiterhin unter anderem auf einem Abzug der israelischen Truppen, was Israel jedoch strikt ablehnt.

Weitere Zugeständnisse in den Verhandlungen über eine Waffenruhe schloss die Hamas aus. „Israel meint es nicht ernst mit einem Abkommen und benutzt die Verhandlungen als Vorwand, um in Rafah einzumarschieren und den Grenzübergang zu besetzen“, sagte ein Vertreter. Man werde nicht über den am Montag akzeptierten Waffenstillstandsvorschlag hinausgehen. Israel hatte zuvor erklärt, der Dreiphasenvorschlag sei inakzeptabel, weil die Bedingungen verwässert worden seien.

Delegationen aus Kairo abgereist

Die Gespräche über eine Waffenruhe und Geiselfreilassungen in Kairo laufen bereits seit Wochen. Die Delegationen von Israel und der Hamas reisten am Donnerstag nach einer zweitägigen Verhandlungsrunde aus der ägyptischen Hauptstadt ab. Die Bemühungen Ägyptens, Katars und der USA, die Standpunkte beider Seiten anzunähern, sollen aber fortgesetzt werden, berichteten ägyptische Medien.

USA: Entscheidung liegt bei Israel

Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, verwies am Donnerstag darauf, dass Israel noch keine Bodenoffensive in Rafah begonnen habe. „Wir hoffen, dass es nicht dazu kommt“, sagte er. „Wenn Israel tatsächlich mit einer großen Bodenoperation voranschreitet, werden die USA bestimmte Waffen zur Unterstützung einer solchen Operation nicht liefern“, bekräftigte Kirby. Die Entscheidung liege bei Israel.