Szene aus „Joy“
Filmladen Filmverleih

„Joy“: Teufelskreis auf dem Straßenstrich

In ihrem bereits dreifach preisgekrönten neuen Spielfilm zeigt Sudabeh Mortezai das Leben nigerianischer Sexarbeiterinnen auf dem Wiener Straßenstrich. „Joy“ enthüllt ein System der Unterdrückung, in dem Grenzen zwischen Tätern und Opfern fließend sind, und ist nichts anderes als ein filmisches Meisterwerk.

Seinen Ausgangspunkt hat „Joy“ in Nigeria, wo gerade ein Voodoo-Ritual, genannt Juju, durchgeführt wird. Es soll eine junge Frau beschützen, die sich auf den Weg nach Europa macht. Welche weitreichenden Folgen dieser Brauch für das Mädchen hat, wird sich später im Film dramatisch auflösen.

Nächster Schauplatz: ein Straßenstrich am Stadtrand von Wien. Im silbernen Glitzerkleid und mit blonder Perücke verdient die Prostituierte Joy (Joy Anwulika Alphonsus) hier schon seit einiger Zeit ihr Geld, mit dem sie ihre kleine Tochter in Wien und ihre Familie in Nigeria unterstützt. Außerdem muss sie bei Madame, ihrer Zuhälterin, Schulden abbezahlen, um sich von ihr freizukaufen.

Szene aus „Joy“
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Joy hofft auf ein besseres Leben für ihre kleine Tochter in Wien

Die Freiheit scheint für Joy in greifbarer Nähe, als Madame ihr die Verantwortung für Precious (Precious Mariam Sanusi) übergibt, ein junges Mädchen aus Nigeria, das sich nicht mit seinem Schicksal abfinden möchte. In einer engen Wohnung leben sie mit einer Gruppe anderer Frauen, die alle für Madame arbeiten. Die Zuhälterin kommt jede Woche, sammelt das Geld ein und kontrolliert jedes Detail ihres Lebens. Der Alltag der Frauen ist auf die Arbeit auf der Straße beschränkt, wenige private Momente in der Wohnung und wöchentliche Kirchenbesuche geben ihnen ein trügerisches Gefühl von Gemeinschaft.

Sudabeh Mortezai
ORF.at/Sonia Neufeld

Zur Person

Sudabeh Mortezai wurde 1968 als Tochter iranischer Eltern in Ludwigsburg geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Wien und Teheran. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Wien, später Film an der UCLA in Los Angeles. Nach mehreren Kurz- und Dokumentarfilmen legte sie 2014 mit „Macondo“ ihren ersten abendfüllenden Spielfilm vor. „Joy“ ist ihr zweiter Spielfilm und wurde bereits in Venedig, London und Chicago preisgekrönt.

Überleben der Stärksten

Doch in diesem System ist sich jede selbst die Nächste. Joy hat nur ein Ziel vor Augen: endlich frei und unabhängig zu sein. Deshalb kann sie sich weder Mitleid noch Solidarität mit den anderen Frauen erlauben. Und auch wenn sie sich gegenseitig die Haare flechten und miteinander tanzen, gilt hier allein das Recht der Stärkeren. So gibt es für Joy nur eine realistische Aussicht auf „Beförderung“: ihre Schulden zu bezahlen, auf die andere Seite zu wechseln und selbst Madame zu werden.

„Diese fließenden Grenzen zwischen Opfern und Tätern haben mich interessiert“, sagt Regisseurin Mortezai im Gespräch mit ORF.at. „Wie kann es sein, dass eine Frau, die das am eigenen Leib erfahren hat, selbst zur Ausbeuterin wird?“ Vor allem die Recherche an Ort und Stelle in Nigeria habe ihr die Augen geöffnet. In Benin City, wo die meisten dieser Frauen herkommen, sei das Thema Menschenhandel omnipräsent, jeder habe dort eine Geschichte dazu zu erzählen. Hier erfuhr die Filmemacherin auch vom eingangs erwähnten Juju-Schwur, einem integralen Bestandteil von Human Trafficking. Wenn eine junge Frau nach Europa will, wird sie zu einem „native doctor“ gebracht, wo sie schwören muss, dass sie alle Schulden abbezahlen, niemals mit der Polizei zusammenarbeiten und die Trafficker nicht verraten werde. „Das ist ein sehr starkes Kontrollinstrument“, so Mortezai.

Filmhinweis

„Joy“ wird auf der Viennale am 3.11. um 18.00 Uhr im Gartenbaukino und am 4.11. um 15.00 Uhr im Stadtkino im Künstlerhaus gezeigt.

Der mit Unterstützung des ORF-Film/Fernseh-Abkommens hergestellte Film startet am 18.1.2019 in den österreichischen Kinos.

Einlassen auf Perspektivenwechsel

Das Fazit ihrer Reise: „Moralische Erhabenheit muss man sich leisten können. Viele von uns, die in Europa leben, haben überhaupt keine Ahnung, wie leicht es ist, von so einer privilegierten Position aus zu urteilen.“ Ihre Motivation sei es gewesen, Verständnis für diese Frauen zu wecken. „Ich will niemanden belehren oder zwingen, aber wer sich auf den Film einlässt, kriegt einen Perspektivenwechsel.“

Unerbittlich wirft einen Mortezais Film mitten in die Welt der Titelheldin, deren Stärke und Würde man mit nichts anderem als Respekt begegnen kann. Er zeigt komplexe Machtverhältnisse und den alltäglichen Überlebenskampf der Frauen, die auf Europas Straßenstrichen arbeiten. Von der Ausstattung bis zur Kameraarbeit, von den Kostümen bis hin zu den großteils improvisierten Dialogen – alles ist meisterhaft darauf ausgerichtet, dass es für das Publikum kein Entkommen gibt. Der Perspektivenwechsel gelingt.