Sidney Flanigan stars as Autumn in NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS, a Focus Features release.  


 *** Local Caption *** Never Rarely Sometimes Always, Niemals selten manchmal immer, Eliza Hittman, USA, 2020, V’20, Spielfilme
Viennale
„Never Rarely Sometimes Always“

Von der Gefahr, eine junge Frau zu sein

Mit „Never Rarely Sometimes Always“ legt die US-amerikanische Regisseurin Eliza Hittman ein flammendes Plädoyer für das Recht auf körperliche Selbstbestimmung vor – und die eindringliche Charakterstudie eines Mädchens, das eine enorme Hürde überwinden muss.

Sie ist still, schmal, verhuscht. Nur auf der Bühne ihrer Highschool wird sie laut und singt alle an die Wand: Autumn (Newcomerin Sidney Flanigan) ist 17, hat einen Exfreund, der blöd zu ihr war, und einen Job im Supermarkt. Dort arbeitet auch ihre um ein paar Jahre ältere Cousine Skylar (Talia Ryder), am liebsten bleibt Autumn aber für sich. Allerdings steht sie vor einem Problem: Sie hatte schon länger nicht mehr ihre Regel. Ein Schwangerschaftstest ist positiv.

Als sie im örtlichen Beratungszentrum nachfragt, bekommt sie von den betulichen Damen dort nur Broschüren zum Thema Adoption, ein abschreckendes Video über all das, was bei Abtreibungen schiefgehen kann, und die Info, dass sie als Minderjährige in Pennsylvania zu einem Schwangerschaftsabbruch die Zustimmung ihrer Eltern braucht. Zum Glück hat Autumn aber mit Skylar eine vertrauenswürdige Mitwisserin – und die hilft, ohne nachzufragen. Gemeinsam packen die beiden ein paar Sachen und steigen in den nächsten Fernbus nach New York.

Die Risiken der langen Anreise

Regisseurin Hittman feierte vor vier Jahren mit dem Drama „Beach Rats“ ihr Spielfilmdebüt, der Film lief 2017 auch bei der Viennale, ein Coming-of-Age-Drama um einen verträumten Teenager zwischen Chat-Room und Cruising-Meile am Strand. Die Idee für den Film „Never Rarely Sometimes Always“ liege jedoch noch länger zurück, sagt Hittman im Interview mit ORF.at: „Zum ersten Mal habe ich im Herbst 2012 über diesen Film nachgedacht, als ich in der Zeitung vom Tod von Savita Halappanavar gelesen habe. Sie starb in Irland, nachdem ihr eine lebensrettende Abtreibung verweigert wurde.“

Filmhinweis

„Never Rarely Sometimes Always“ läuft bei der Viennale noch am 26.10. um 18.00 Uhr im Stadtkino im Künstlerhaus, am 27.10. um 6.30 Uhr im Gartenbaukino und am 28.10. um 18.00 Uhr im Filmcasino.

Unter dem deutschen Verleihtitel „Niemals Selten Manchmal Immer“ startet der Film am 29.10. im Kino.

Never Rarely Sometimes Always (Viennale)

Hittman war tief erschüttert, als sie von der Situation von Frauen in Irland erfuhr, die für eine Abtreibung eigens nach London reisen müssen. „Ich fand, diese Geschichte gehört erzählt. Aber ich bin halt keine irische Filmemacherin, also habe ich mir überlegt, was das amerikanische Gegenstück zu dieser Geschichte wäre. Tatsächlich müssen auch in den USA viele Frauen aus ländlichen Gegenden in Städte reisen, um Zugang zu reproduktionsmedizinischer Vorsorge zu bekommen.“

Die Illusion von Fortschritt während Obama

Das Interesse am Thema war jedoch in der Ära Obama überschaubar: „Damals hatten alle die Illusion von Fortschritt und die Herausforderungen, die der Zugang zu Schwangerschaftsbetreuung und Abbrüchen mit sich brachte, waren in der öffentlichen Debatte schlicht nicht relevant.“ Inzwischen sei die Lage völlig anders und der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen in den USA tatsächlich bedroht: „Roe vs. Wade (die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs, wonach Schwangerschaftsabbruch Privatsache ist, Anm.) steht an der Kippe. Besonders arme Frauen und Women of Color haben es immer schwerer, Zugang zu bekommen.“

Talia Ryder stars as Skylar in NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS, a Focus Features release.  
 *** Local Caption *** Never Rarely Sometimes Always, Niemals selten manchmal immer, Eliza Hittman, USA, 2020, V’20, Spielfilme
Viennale
Cousine Skylar (Talia Ryder) begleitet Autumn auf ihrem Trip ins Ungewisse

In „Never Rarely Sometimes Always“ folgt Hittman den beiden jungen Frauen auf ihrer Reise, die immer wieder an ganz banalen Hindernissen zu scheitern droht: eine im lokalen Beratungszentrum falsch erteilte Information, ein unerwartet teurer Eingriff, eine unangenehme Begegnung mit einem jungen Mann, fehlendes Geld fürs Busticket – doch nie stellt der Film Autums Entscheidung grundsätzlich infrage, nie wird ihre Autonomie angezweifelt, für ihr eigenes Leben und ihren Körper die beste Entscheidung treffen zu können.

Ein Verbot bedeutet Risiko

Hittman ging für die Recherche in Planned-Parenthood-Kliniken, aber auch in andere Einrichtungen, und fragte die dortigen Beraterinnen, Ärztinnen und Sozialarbeiterinnen: Was würden Sie mir raten, wenn ich hier als Minderjährige hereinkäme? „Ich habe die Geschichte und die Dialoge auf Basis dieser Gespräche geformt.“ Kelly Chapman, jene Sozialarbeiterin, die im Film sich selbst spielt, habe dabei etwas gesagt, das Hittman tief beeindruckte: „Die Krise ist nie die Abtreibung selber. Da ist immer ein Geheimnis, was bei der jeweiligen Frau zu Hause los ist, und das lässt sich in einer Stunde Beratung nicht ergründen.“

Dieses Geheimnis lässt Hittman auch ihrer Protagonistin im Film, es reicht völlig, dass Autumn selbst ihre Entscheidung trifft. Das steht in krassem Gegensatz zu einer sexistischen, patriarchalen Gesellschaft, die Mädchen und Frauen diese Entscheidungsfreiheit über ihre eigene körperliche Unversehrtheit nicht zugestehen will. Diese Grundverfassung illustriert Hittman auch durch wiederholte Mikroaggressionen, die all jenen vertraut sind, die einmal junges Mädchen gewesen sind, sei es die vorgeblich wohlmeinende Lüge der Beraterin oder der hartnäckig flirtende Jugendliche im Bus, der ein Nein nicht akzeptieren will.

Hochpolitischer Film und Charakterstudie

„Never Rarely Sometimes Always“ ist ein Roadmovie, ein inniger Freundschaftsfilm, eine unglaublich präzise gespielte Charakterstudie einer zurückhaltenden jungen Frau, die in einer Ausnahmesituation Verantwortung übernimmt – und ein hoch politischer Film, in dessen Herzen ein gerechter Zorn brodelt: „Für mich ist sehr wichtig, dass auch Menschen, die gegen Abtreibung sind, diese Reise miterleben und einen genaueren Einblick bekommen, was Verbote und Hindernisse für Frauen bedeuten.“

Es sei zwar möglich, den legalen Zugang zu Abtreibungen zu verbieten, aber das bedeute nicht, dass es weniger Schwangerschaftsabbrüche geben würde: „Ein Verbot heißt lediglich, dass die Abbrüche dann unter lebensgefährlichen Bedingungen durchgeführt werden.“