Terence Davis
Viennale
Terence Davies

Poetik des einfachen Lebens

Terence Davies gilt als der bedeutendste britische Filmemacher der Gegenwart. Anlässlich seines 75. Geburtstages zeigt die Viennale eine Monografie des großen Regisseurs. In hochpoetischer Bildsprache erzählt Davies von der Gegenwart der Vergangenheit, der Sehnsucht nach Selbstbestimmung und der Kraft der Musik.

Das Werk des britischen Filmregisseurs umfasst zwar nur ein Dutzend Filme, diese aber nehmen eine einzigartige Position im internationalen Kino ein. Der am 10. November 1945 in der Handelsstadt Liverpool als jüngstes von zehn Kindern geborene Davies begann seine Film-Karriere im Jahr 1976 mit einer Trilogie über das Leben des Liverpoolers Robert Tucker, Davies‘ Alter Ego.

Die in Schwarzweiß gehaltenen Filme geben Einblick in das einsame Leben des Buben, der unter der Gewalt seines Vaters sowie an den restriktiven Maßnahmen der katholischen Schule leidet und an der Entdeckung seiner Homosexualität verzweifelt. Wie sein Protagonist Tucker arbeitete Davies über zehn Jahre als Büroangestellter, bis er eine Schauspielausbildung in Coventry begann und Regie an der National Film School studierte. Autobiografische Erfahrungen inspirierten ihn 1988 zu dem Langfilmdebüt „Distant Voices, Still Lives“ (1988).

Szene aus dem Film „Distant Voices, Still Lives“ von Terence Davies (1988).
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Freda Dowie als Mutter Davies, Dean Williams als Bruder Tony, Angela Walsh als Schwester Eileen und Lorraine Ashbourne als Schwester Maisie vor dem Foto des verstorbenen Vaters in Davies’ Debüt „Distant Voices, Still Lives“

Kindheit und Jugend in Liverpool

In zwei Teilen – der Tod des brutalen Vaters markiert die Grenze – erzählt Davies in „Distant Voices, Still Lives“ vom Leben einer katholischen Arbeiterfamilie in Liverpool. Tableauartig arrangiert er die Figuren, immer wieder scheinen sie in Posen erstarrt. Nach der Hochzeit des Bruders etwa stehen Mutter, Bruder und Schwestern bewegungslos vor einem Schwarzweißbild des verstorbenen Vaters (der mit einem Maultier abgebildet ist).

Sie blicken ausdruckslos in die Kamera, doch überwiegt die Ironie, die sich aus der Anordnung ergibt. In einem Interview mit Melvyn Bragg aus dem Jahr 1992 verweist Davies auf Anton Tschechows feine Komik, die aus der Darstellung einfacher, geradezu banaler Szenen resultiert. Es ist genau diese „Poetik des einfachen Lebens“, die auch Davies‘ Filmen ihre unverwechselbare Position verleiht. Kongenial setzt er Bild, Ton und Text ein, seine Auseinandersetzung mit der Lyrik bestimmt die beiden letzten Filme, die Biopics „A Quiet Passion“ und „Benediction“.

Poesie und Poeten

2016 erschien die Filmbiografie „A Quiet Passion“ über die amerikanische Dichterin Emily Dickinson (1830–1886). Cynthia Nixon – bekannt als Anwältin Miranda aus „Sex and the City“– brilliert als unangepasste Künstlerin im ständigen Konflikt mit inneren und äußeren Konflikten.

Gegen die restriktiven Maßstäbe der Kirche und des Elternhauses verteidigt die Dichterin ihren Lebensentwurf, der von klaren moralischen Vorstellungen und Leidenschaft für Lyrik getragen ist. Wie auch im jüngsten Film „Benediction“ (über den Dichter Siegfried Sassoon) zitiert Davies Verse der Hauptfigur und fächert über die Bild-Ton-Ebene eine vielstimmige Geschichte gesellschaftlicher Widersprüche und seelischer Kämpfe auf.

Kraft der Musik und des kollektiven Singens

Die Bandbreite seines poetischen Verständnisses zeigt sich auch im Einsatz (und in der Behandlung) von Musik. Davies‘ Protagonisten gehen in die Oper, spielen Klavier und singen gemeinsam. Wie in „Peter Grimes“ von Benjamin Britten, den Davies verehrt, löst er Phasen des Stillstands und aggressive Atmosphäre mittels Szenen kollektiven Singens; in der Kirche, im Pub und an den Wochenenden im heimischen Wohnzimmer, wenn die Frauen populäre Songs wie das schottische Volkslied „Oh Waly, Waly“ trällern und pure Lebenslust vorherrscht.

Immerhin entfachte der Besuch von Gene Kellys Musical „Singing in the Rain“ Davies‘ Leidenschaft für das Kino. Zusammen mit seiner Schwester sah er den Film, als er sieben Jahre alt war unmittelbar nach dem Tod des Vaters, und es folgten unzählige Kinobesuche. Vor allem das amerikanische Kino – Western und Musicalfilme – hatte es ihm angetan, auch wenn seine Vorlieben eher bei Franz Liszt, Johannes Brahms oder Gustav Mahler liegen.

In dem Filmessay „Of Time and The City“, der 2008 anlässlich der Verleihung des Ehrentitels „Kulturhauptstadt Europa“ an Liverpool entstand, konterkariert Davies Aufnahmen der durch den Thatcherismus beinahe ruinierten Stadt mit Mahlers „Auferstehungssinfonie“. So wird der melancholische Essay zugleich auch Davies‘ ganz persönliche Liebeserklärung an seine Heimatstadt, die er in verschiedenen Zeiten porträtiert.

Liverpool als ehemals strahlende Handelsmetropole, Liverpool um die Jahrtausendwende, Liverpool der Nachkriegsjahre: Ganze Häuserzeilen ließ Davies für den Film nachbauen. „Denn alles ist gegangen, entweder tot oder einfach nicht mehr da“, kommentiert er persönlich im Off-Text.

Stillstand und Bewegung

Einsamkeit und Isoliertheit variiert er mit Szenen rasanter Bewegung. In jedem seiner Filme zeigt er die Protagonisten aus dem Fenster eines fahrenden Zuges, einer Kutsche oder eines Busses blickend. Während Zeit und Landschaft in hohem Tempo vorüberziehen, stehen die Personen still. Vergangenheit ist bei Davies‘ immer auch Gegenwart, in Rückblenden spielt er mit der Chronologie und häufig bleibt unklar, welcher Moment gerade vorherrscht.

Nur die Zukunft ist unergründlich. In der Verfilmung von John Kennedy Tools Roman „The Neon Bible“ (1995, mit der großartigen Gena Rowlands als alternder Sängerin) nähert sich die Kamera am Wendepunkt der Story einem weißen Leintuch, bis das gesamte Bild zur weißen Fläche wird. Davies setzt Weißblenden ein, um die Szenen voneinander zu trennen und Hoffnung zu vermitteln.

Im Viennale-Trailer „But Why?“ wandert der Blick zum Fenster, hinter dem Glas leuchtet helles Licht. Davies’ gesamtes Filmwerk ist voll von geöffneten Türen und Fenstern, immer wieder fährt die Kamera langsam auf sie zu, hofft auf ein Leben außerhalb gesellschaftlicher Normen und Regeln. Doch selten verlassen die Bilder Fenster- und Türrahmen, streng und scheinbar unüberwindbar sind die Grenzen zwischen sozialer Akzeptanz und individuellem Begehren.

Vom Anders-Sein und Dazu-Gehören

Davies erzählt von Menschen, die sich nach einem selbstbestimmten Leben sehnen und dadurch in Konflikt mit gesellschaftlichen Regeln geraten. In seinen Literaturverfilmungen stehen stets Frauen im Mittelpunkt, die sich nach einem (auch sexuell) erfüllten Leben sehnen, aber an konservativen, patriarchalen Systemen scheitern. In „The Mouse of Mirth“ (2000, nach dem Roman von Edith Wharton) reüssiert Gillian Anderson als unkonventionelle Lily Bart, eine Upper Class-Lady im heiratsfähigen Alter.

Szene aus dem Film „The House of Mirth“ von Terence Davies.
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Gillian Anderson als Lily Bart zusammen mit Dan Aykroyd als Augustus Trenor und Anthony LaPaglia als Sim Rosedale in der Opernloge in „The House of Mirth“

Sie sehnt sich nach einem Mann, dem sie sich auch zugeneigt fühlt. Doch sie unterschätzt die perfiden Mechanismen einer eiskalten Gesellschaft, die jegliche Art des Anders-Seins vernichtet. Vergeblich hofft Lily auf Menschlichkeit, wie auch Hester Collyer in „The Deep Blue Sea“ (2011, nach dem Theaterstück von Terence Rattigan). Rachel Weisz brilliert hier als Hester, die an der Entscheidung zwischen ihrem fürsorglichen Ehemann und einer leidenschaftlichen Affäre mit dem Piloten Tom verzweifelt.

Vor dem Hintergrund der Nachkriegsjahre muss sie erfahren, welche – vor allem auch psychischen – Schäden der Krieg angerichtet hat und wie starr und brutal soziale Ordnung sein kann. In „The Neon Bible“ drängen fanatische Männer aufs Schlachtfeld, zurück bleiben einsame Frauen sowie traumatisierte Kinder. 18 Jahre hat Davies an der Verfilmung des schottischen Kultromans „Sunset Song“ (2015), des Autors Lewis Grassic Gibbons gearbeitet.

Gelungen ist ihm ein empathisches Drama über eine begabte, mutige Frau, die um ihre menschliche Würde kämpft. Auch hier scheut Davies nicht die schonungslose Darstellung, was religiöser Fanatismus und Kriegslust bringen: Zerstörung und Tod.

„Benediction“ als Dichter-Biopic

Die Schrecken und Auswirkungen des Ersten Weltkrieges thematisiert Davies auch in seinem jüngsten Film „Benediction“ (2021) über die historische Figur des Dichters und Soldaten Siegfried Sassoon (1886–1967). Dieser kann sich – obwohl Homosexualität zu dem Zeitpunkt als kriminell galt – als Angehöriger der Oberschicht einen offenherzigen Umgang mit seiner Homosexualität erlauben, er macht die Erfahrung, nicht allein zu sein und doch bringen seine Beziehungen kein beständiges Glück.

Sassoon heiratet und wird Vater eines Sohnes. Sein Schmerz und die Empörung, die in seinen Gedichten zum Ausdruck kommen, handeln von einer homophoben und zugleich kriegsversessenen Politik und Gesellschaft. Sassoon, selbst Kriegsveteran und vorerst überzeugt, dass die deutschen Angriffe abgewehrt werden mussten, verabscheute die politische Strategie der Kriegsfortführung auf Kosten von Menschenleben.

Filmhinweis

„Benediction“ wird im Rahmen der Viennale im Filmmuseum am 24.10. um 20.30 Uhr gezeigt.

Davies verwendet Found Footage aus dem Ersten Weltkrieg, Bilder von zerschossenen Gesichtern, männlichen Torsi und jungen Männern im Rollstuhl. Diese sind isoliert, amputiert, der Krieg hat ihnen ihr Leben genommen, so wie auch restriktive Gesellschaften Menschen zerstören können, wenn sie nicht der Norm entsprechen. Das trifft auch auf den Filmregisseur selbst zu. In einem Interview mit der Irish Times sagte er 2011: „Schwul zu sein, hat mein Leben ruiniert. Ich hasse es. Ich werde es bis zu meinem Tod hassen.“

Peter Capaldi – in „Benediction“ der Darsteller des alten Siegfried Sassoon – sowie Richard Goulding, der seinen Sohn George Sassoon spielt, sind die beiden Akteure im Viennale-Trailer „But Why?“ Als junger Mann steigt er (Goulding) eine Treppe hinauf. Dort blickt er aus dem Fenster, während die Kamera die leeren Wohnräume im diffusen Licht zeigt und Davies über Verwandte, geliebte Gegenstände und Stimmungen spricht, die allesamt vergangen sind.

Als der Blick wieder zum Protagonisten schwenkt, ist aus ihm ein alter Mann (Capaldi) geworden, der die Treppe wieder hinuntergeht. „I ascend the stairs. I descend the stairs.“ „But Why?“ fängt ein ganzes Menschenleben innerhalb weniger Momente ein und stellt gleichzeitig die älteste aller philosophischen Fragen nach dem Sinn des Lebens. Davies‘ gesamtes hochpoetisches Werk verleiht all jenen eine Stimme, die ansonsten unsichtbar bleiben.