Szene aus dem Film „Red Rocket“
Viennale
„Red Rocket“

Nostalgie eines kindischen Zuhälters

Nach dem oscarnominierten „The Florida Project“ über unterprivilegierte Kinder kehrt Regisseur Sean Baker zu seinen Wurzeln zurück und erzählt in „Red Rocket“ von einem erfolglosen Pornostar zwischen American Dream und Armut.

Mikey steht auf N’Sync, hat verantwortungslosen Sex mit seiner Ex Lexi, wohnt auf der Couch bei deren Mama und brettert mit einem Kinderfahrrad durch die Gegend. Um über die Runden zu kommen, verkauft er Gras an Fabrikarbeiter in der Gegend, und beim örtlichen Donut-Laden verknallt er sich in ein Mädchen, das er Strawberry nennt, und so lange bequatscht, bis auch sie Sex mit ihm hat.

Nein, Mikey ist in „Red Rocket“ kein amerikanischer Teenager mit nostalgischem Hang zu den neunziger Jahren, sondern ein Mittvierziger, der bis vor Kurzem mäßig erfolgreich als Pornodarsteller in Los Angeles gearbeitet hat. Es ist der dritte Spielfilm, bei dem sich Baker im weitesten Sinne mit Sexarbeit befasst: 2012 drehte er mit „Starlet“ einen Film über eine junge Pornodarstellerin, die sich per Zufall mit einer älteren Dame anfreundet, und in dem zuckerlbunten Straßendrama „Tangerine“ begleitete er eine Transfrau, die ihren Unterhalt als Sexarbeiterin verdient.

Thematisch anders war der zauberhaft-bittere Film „The Florida Project“, der bei der Viennale 2017 zu sehen war und für zwei Oscars nominiert wurde. Der Film handelte vordergründig von einer erfüllten Kindheit in Florida, eigentlich aber von Armut und großer Liebe. Es war der bisher einzige von Bakers Filmen, in dem mit Willem Dafoe ein international bekannter Star mitspielte.

Eine Branche für große Dinger

In „Red Rocket“ liegt der Fall etwas anders. Mikey, gespielt von dem zeitweise ebenfalls als Pornodarsteller beschäftigten Simon Rex, war in Los Angeles tatsächlich einmal erfolgreich, zumindest behauptet er das. Er hat sogar einige renommierte Preise für Oralsexszenen gewonnen. Strenggenommen haben die Preise zwar die Darstellerinnen gekriegt, aber das ist in seinen Augen nicht mehr als das Kleingedruckte in einer Branche, die sich für große Dinger interessiert.

Filmhinweis

„Red Rocket“ wird im Rahmen der Viennale am 27.10. im Gartenbaukino um 20.30 Uhr gezeigt. Der österreichweite Filmstart ist für das Jahr 2022 geplant.

Irgendwann ließ sich dann doch nicht mehr genug verdienen, und er schuldet einigen Leuten Geld, also ist Mikey mit dem Bus heimgefahren nach Texas. Und dann steht er eines Nachmittags plötzlich wieder vor der Tür seiner Ex Lexi (Theaterschauspielerin Bree Elizabeth Elrod), von der er eigentlich nur aus Faulheit noch nicht geschieden ist, und bettelt sie und ihre zahnlose Mama an, bei ihnen unterkommen zu dürfen – für ein paar Tage nur, klar zahlt er auch Miete. Die Nachbarin, die in der Gegend ein Monopol auf Marihuanahandel hat, braucht ohnehin immer Dealer.

Falsche Pornoversprechen

Natürlich dauert es nicht lange, bis Mikey sich unmöglich aufführt, und natürlich bereut Lexi binnen Kurzem, dass sie ihn wieder in ihr Leben und ihr Bett gelassen hat. Früher war sie nicht nur seine Partnerin, sondern auch seine Kollegin, gemeinsam waren sie nach Hollywood gegangen, sie ist irgendwann früher wieder heimgekehrt, ausgespuckt vom Pornobusiness, für das sie doch nicht den Magen hatte.

Mikey findet dafür einen Goldschatz, eine fleischgewordene Pornofantasie: Sie ist 17, behauptet aber 18 zu sein, hat erdbeerblondes Haar, hört auf den Namen Strawberry (Suzanna Son), verkauft Donuts und ist bereit, ihm jede Lüge zu glauben. Die vom riesigen Haus, das er besitzt, die von der gigantischen Pornokarriere, die er ihr verschaffen wird – nun, zumindest daran glaubt er auch selber. Beim Sex haben die beiden viel Spaß, ihren Freund lässt sie für den aufregenden Pornostar sofort stehen, gemeinsam fahren sie Hochschaubahn wie die verknallten Teenager. Der Haken kommt natürlich, doch bis dahin dauert es noch eine Weile.

Schauspieler Sean Baker im Gartenbaukino
Robert Newald
Regisseur Sean Baker beim Viennale-Screening im Gartenbaukino

„Red Rocket“ ist ein Coming-of-Age-Film über einen Mann, der sich aufführt wie ein 15-Jähriger. Doch entgegen jenen Konventionen um solche Männerfiguren existiert hier keine klischeehaft vernünftige Frau, die ihm die Ohren langzieht und ihm mit sanft erzieherischer Strenge zum Erwachsenwerden verhilft. Im Gegenteil, er schlittert von einer Katastrophe in die nächste, wie ein Hund, den das Leben getreten hat und der trotzdem dem nächsten Auto nachrennt.

Archetyp des Kind-Mannes

Mikey ist der Archetyp eines „Suitcase Pimp“, ein „Koffer-Zuhälter“, wie er Baker bei seinen Recherchen in der Pornobranche immer wieder begegnet sei, so der Regisseur gegenüber ORF.at: „Das ist ein abschätziger Slang-Ausdruck für Männer, die angehende Pornodarstellerinnen in die Branche einführen, sie ausnutzen und von ihren Einnahmen leben. Männer verdienen in der Branche kaum Geld, die Frauen verdienen das Zehnfache, also müssen die Männer andere Überlebensstrategien finden.“

Diese Männer, wie Baker sie schildert, sind oft ungemein charmant und witzig, zugleich sei ihnen aber nicht bewusst, wie destruktiv sie für die Menschen um sich herum sind: „Dieser Narzissmus, die Art, sich immer als Opfer darzustellen, obwohl sie alle anderen ausnützen – ich hab so jemanden im Kino noch nie gesehen und wollte eine Charakterstudie darüber machen.“ Den Suitcase-Pimp-Charakter hat es tatsächlich im Kino so noch nicht gegeben, peinlich anrührende Kind-Männer dafür wie Sand am Meer.

Als die Welt noch einfach war

Reizvoll an „Red Rocket“ ist dafür die Nostalgie, die den Film in jeder Faser durchdringt, nach einer einfacheren Zeit, ob es die neunziger Jahre sind – N’Sync haben auf dem Soundtrack einen prominenten Platz – oder auch nur die unschuldige Zeit, bevor Donald Trump US-Präsident war und die amerikanische Gesellschaft auseinandergebrochen ist. Der Film spielt im Sommer 2016 während des Wahlkampfs.

„Das Land ist heute extrem gespalten, viel mehr noch als damals, und das finde ich entsetzlich und will es hier auf der zwischenmenschlichen Ebene thematisieren“, sagte Baker. Wer mag, kann hier Nostalgie nach einer erst kurz zurückliegenden Zeit entdecken, in der die Welt noch einfacher war – so kompliziert es für Mikey am Ende dann auch wird.