Szene aus „Il Buco“
Viennale/Il buco
„Il Buco“

Wenn der Schlund ruft

Mit seinem Film „Il buco“ über die Erforschung einer Höhle ist dem Italiener Michelangelo Frammartino pures Kino gelungen, bei dem das Schauen im Vordergrund steht – und sich im Subtext eine ganze Welt auftut.

Irgendwo oben auf einer Hochalm im Pollino, einem Gebirgszug zwischen Kalabrien und der Basilikata, ist ein Loch in der Erde. Der Berg reißt dort das Maul auf, viele hundert Meter geht es teils senkrecht hinunter in die Finsternis. Wer einen Steinbrocken in das Loch wirft, hört endlose Sekunden lang wieder und wieder den Aufprall an Felswänden, die nie das Sonnenlicht erreicht hat, bis es endlich still wird.

Im Sommer 1961 hat eine Gruppe junger Höhlenforscherinnen und Höhlenforscher aus dem Piemont erkundet, wie tief es tatsächlich hinuntergeht in den Abisso di Bifurto. Diese Erforschung ist tatsächlich passiert, Frammartinos Film „Il buco“ fiktionalisiert sie sanft, und schildert die Geschehnisse wortlos, ganz aufs Hinschauen konzentriert, und aufs Hinhören. Dazwischen bleibt genug Platz für eigene Schlussfolgerungen.

Da steht ein knorriger Senn am Abhang, ruft seine Rinder. Gemächliches Kuhglockengeläut, der Wind, die Rufe des alten Mannes, mehr ist nicht zu hören, ein Nebelschleier zieht den Berg herunter über die geduckten Kiefern. Mehr passiert hier üblicherweise nicht. Bis dann die Forschertruppe aus dem Norden anrückt, mit Rucksäcken, Zelten, Vermessungswerkzeug, Zeichenpapier, Seilen und Steigeisen.

Faszination fürs Hohe und fürs Tiefe

Schon mit seinem Film „Quattro volte“, der bei der Viennale 2010 zu sehen war, schilderte Frammartino das Dasein eines Hirten in Kalabrien in ruhigen, strahlenden Bildern ohne Dialog und ohne Dringlichkeit. Auch „Il buco“ ist von großer Gelassenheit geprägt, obwohl die Erkundung der Höhle zum Ende hin atemlos spannend wird.

Filmhinweis

„Il buco“ wird im Rahmen der Viennale am 31.10. um 21 Uhr im Filmmuseum gezeigt.

Zuerst ist da der Stein, der in den Schlund fällt, dann ein Seil, das hinuntergelassen wird, dann eine Strickleiter. Immer wieder auch Papierfetzen, die einer der Kletterer anzündet und hinunterwirft, wo ihre Flammen langsam segelnd die Tiefe erhellen. Nicht sofort wird deutlich, dass die Papierfetzen aus einem Unterhaltungsmagazin stammen, Gesichter von Filmstars sind da erkennbar, Teile von Überschriften lassen Rückschlüsse auf die Welt da draußen zu, die auf einmal in das stille Nichts hereindringt.

Szene aus „Il Buco“
Viennale/Il buco
Im Bauch des Berges

Es ist eine Zeit, die sich mit blanken Augen für das Unbekannte interessiert, nicht nur Höhlen werden erforscht, im selben Jahr fliegt der erste Mensch ins All, und in Italien herrscht ein Wirtschaftsboom. Im Fernsehen läuft just in diesem August eine Doku über den Bau des Pirelli-Hochhauses in Mailand, für die das gesamte Dorf nahe der Höhle sich vor dem Fernseher am Dorfplatz zusammenfindet. „Il buco“ ist also zugleich eine historische Momentaufnahme, auch die Nord-Süd-Unterschiede spielen eine Rolle.

Die Nase eines Esels, der Ruf des Hirten

Vor allem aber ist es ein Film übers Schauen, einer, der zeigt, und nicht erklärt. Abends notieren die Höhlenforscher ihre Erkenntnisse, bringen die im Berg dokumentierten Maße zu Papier, in ästhetisch reizvollen Zeichnungen. Viennale-Direktorin Eva Sangiorgo gegenüber ORF.at dazu: „Hier spielt die das Aufzeichnen eine große Rolle, der Zeichner versucht detailreich und in Schattierungen darzustellen, wie er sich an den Berg erinnert, mit der Sinnlichkeit seiner Hände.“

Die Forscherinnen und Forscher spielen nachmittags quer über das Höhlenmaul Ball, schlafen unter einem hohen Nachthimmel in ihren Zelten und werden frühmorgens von der neugierigen Nase eines Packesels geweckt, nur dann wieder hinunterzusteigen in den Schlund, mit dem Schlauchboot unterirdische Gewässer zu überqueren und an glitzernden Stalagtiten vorbeizuklettern.

Dass der Regisseur und studierte Architekt Frammartino viel von der Konstruktion und dem Mit-Leben-erfüllen physischer Orte versteht, jener großen Wesensverwandtschaft von Kinofilm und Architektur, macht „Il buco“ zum außergewöhnlichen sensorischen Ereignis.

Kino, das die Sinne schärft

Draußen wacht unterdessen der alte Hirte über seine Tiere, schaut in die Landschaft, ruft seinen Hund. Eines morgens ist er zusammengebrochen, Männer aus dem Dorf tragen ihn in seine Hütte, der Doktor kommt vobei. Auch er sinkt in einen Abgrund hinab, während es drinnen im Berg immer kühler wird. Wasser tropft von den Wänden, und irgendwann ist der Boden der Höhle erreicht.

„Il buco“ ist pures, geradliniges Kino, das vom Leben, vom Tod, vom Schauen und von der Neugierde auf die Welt, das die Sinne schärft handelt. Bei den Filmfestspielen in Venedig bekam Frammartino für seinen poetischen Film den Spezialpreis der Jury.