Szene aus dem Theaterstück „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“
Luna Zscharnt
Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer

Brecht, Gossip und Drehbühne 2.0

Der designierte Volksbühnen-Intendant Rene Pollesch zeigt sich in der Koproduktion mit den Wiener Festwochen als großer Übersteigerer. Wo sein Vorgänger Frank Castorf auf die Drehbühne setzte, verwendet Pollesch einen Spinningroom. Kathrin Angerer, Castorfs Lieblingsstar, muss sich bei ihm gar verdoppeln. Am Ende gelingt Pollesch mit seiner verschachtelten Erzählkonstruktion eine genauso kurzweilige wie konsequente Befragung gesellschaftlicher Storylines.

Im Theater an der Wien wird das Jahr 1938 geschrieben: Der Tanzfilm „Generäle über Bilbao“ soll gedreht werden, doch der Stepptänzer scheitert. Er strauchelt und stürzt akrobatisch. Das Buch schreibt es so vor, denn alles ist Fake, betont Martin Wuttke, der in der Choreografie aus Kamerakränen, Hängemikrofonen und einem Spinningroom seine Rolle im Theater an der Wien sucht. Das ist wahrlich eine Herausforderung, denn das aufgebaute Filmset von Nina von Mechow diktiert die Produktion.

Basierend auf Bertolt Brechts Stück „Die Gewehre der Frau Carrar“ (1937) handelt das Drehbuch vom Spanischen Bürgerkrieg. Der designierte Volksbühnen-Intendant Rene Pollesch adaptierte Brechts Titel und nannte sein neuestes Stück rund um Legendenbildung, Startum und Identitätspolitik „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“.

Die doppelte Kathrin Angerer

Angerer, Star der legendären Volksbühnen-Ära unter Castorf, verdoppelt sich gleichsam: Sie ist als Titelfigur zu sehen (wenn auch ganz ohne Gewehre) sowie als Schauspielerin, die ihren Namen verteidigt. Auf einer glamourösen Show-Treppe positioniert sie sich als Diva neben der jungen Rosa Lembeck, die ihre „Zweitbesetzung“ gibt und bewundernd „Mein Gott! Es ist immerhin Kathrin Angerer“ ausruft, während ebendiese repliziert „Ja, das ist mein Name, nutz ihn nicht ab!“ Dann weist sie der Kollegin einen Platz auf der Treppe zu, die unteren Stufen sind gut genug.

Szene aus dem Theaterstück „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“
Luna Zscharnt
Kathrin Angerer spielt sich selbst gleich doppelt im Filmset auf der Theaterbühne

Polleschs Erzählmanöver machen aus den Figuren Erlebende ihrer selbst. Das Eigene wird von Fremden diktiert, selbstironisch variiert der Autor und Regisseur das Spiel mit theatralen Vorgängen und Selbstverwechslungen auf kluge und unterhaltsame Weise. Während Brecht (für ihn ganz ungewöhnlich) bezüglich des Endes von „Die Gewehre der Frau Carrar“ um größtmögliche Authentizität bemüht war, dreht Pollesch die Frage, was wahr und was erfunden ist, buchstäblich um.

In der Drehung Haltung bewahren

In der Spinningroom-Bar „Fame or Shame“ werden die Darsteller auf den Kopf gestellt, rutschen die Wände entlang und versuchen vergeblich im Kampf mit der Schwerkraft das Gleichgewicht zu halten. Platte Wortspiele, wie „Unter Drehen habe ich mir etwas anderes vorgestellt“ oder „Da gehe ich die Wände hoch“, konterkariert Pollesch mit Auszügen aus „Das Leben der infamen Menschen“ des französischen Philosophen Michel Foucault oder „Hollywood Babylon“ von Kenneth Anger.

Während ein siebenköpfiger Tanzchor um Wahrnehmung ringt, kämpfen die Stars um Haltung – die schwer zu finden ist, denn in ihrem Leben herrscht der Gossip vor. Pollesch spielt hier ebenso auf die Gerüchte um seinen eigenen Drogenkonsum als auch auf die öffentliche Zurschaustellung der Körper von Prominenten an. Die Presse braucht Nahrung und die Stars brauchen die Presse.

Szene aus dem Theaterstück „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“
Luna Zscharnt
Der Tanzchor kämpft um Aufmerksamkeit, die Darstellerinnen in der Spinningroom-Bar derweilen gegen die Schwerkraft

So lümmelt etwa Thomas Schmauser im Wrestling Kostüm und an einem Fake-Bier nippend an der Bar und hält demonstrativ seine Kappe mit der Aufschrift „Koka Kona“ in die Kamera. Als Pollesch-Parodie deklariert er jede Geste zur Pose, das Leben der Stars verläuft streng nach Drehbuch. Promis haben ihre Rolle zu spielen, auch wenn sie privat sind.

Die Storyline hinterfragen

Pollesch bezieht sich in „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“ auch auf Clemens J. Setz’ Eröffnungsrede bei den Ingeborg-Bachmann-Tagen 2019 „Kayfabe und Literatur“, in welcher der Grazer Autor über das gescriptete Leben von Wrestlern sprach. Jeder Kampf, ja sogar jede Bewegung und jeder Schmerz sind drehbuchmäßig vorgeschrieben. Wrestler sind Schauspieler, was zählt, sind Dramaturgie und Legendenbildung. So folgt längst auch unser gesellschaftliches Leben differenzierten Storylines, die von Wirtschaft und Politik geschrieben werden.

Polleschs Theater dekonstruiert diese Storylines, setzt sie neu zusammen, allerdings noch nie so linear und kurzweilig wie dieses Mal. Die grandiose Performance der titelgebenden Schauspielerin erhöht die Vorfreude auf die nächste Volksbühnen-Spielzeit.